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2006:7 Soziales Kapital. Konzepte, Theorien und Messverfahren |
Jiří Šafr, Markéta Sedláčková |
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Die Studie stellt das Konzept des Sozialkapitals vor, das in den Sozialwissenschaften explizit erst Ende der 80. Jahre auftaucht, obwohl es in der Soziologie implizit bereits seit Anfang der 70. Jahre als in sozialen Netzwerken verankerte Ressource untersucht wurde. Infolge des enormen Zuwachses empirischer Studien des sozialen Kapitals weist dieses Konzept heute zahlreiche verschiedene Ansätze auf. Deshalb stellen wir eine detaillierte Übersicht der Begriffe, der theoretischen Konzepte und Typologien vor.Ausführlich und kritisch widmen wir uns den Ansätzen von P. Bourdieu, J. Coleman, N. Lin, R. Putnam und G. Becker. Wir unterscheiden zwei grundlegende Typen des sozialen Kapitals - das individuelle und das kollektive Sozialkapital, wobei wir beim individuellen Sozialkapital weiter zwischen dem mobilisierenden und dem interaktiven Sozialkapital unterscheiden - und wir zeigen, dass die mit ihnen verbundenen Forschungszweige sich nach und nach als zwei unterschiedliche Paradigmen konstituierten. Ferner stellen wir zwei Theorien als Repräsentanten dieser zwei Paradigmen vor: die Theorie des instrumentalen Handelns mit Hilfe sozialer Ressourcen (Lin 2001) und das makrogesellschaftliche Modell „Putnam-plus“ (Halpern 2005). Unsere Aufmerksamkeit widmen wir ebenfalls den Besonderheiten des sozialen Kapitals in den postkommunistischen Ländern und insbesondere der Entwicklung der einschlägigen Forschung in der tschechischen Soziologie. Der zweite Teil der Studie befasst sich mit unterschiedlichen Ansätzen der Messung verschiedener Formen des sozialen Kapitals. Besondere Aufmerksamkeit widmen wir dabei dem sozialen Vertrauen als dem konstituierenden Rückgrat des kollektiven Sozialkapitals sowie den Ressourcen in den sozialen Netzwerken als dem Kern des individuellen mobilisierenden Sozialkapitals. Vorgestellt werden ebenfalls Forschungsgebiete und Forschungsthemen sowie Projekte, die sich mit der Untersuchung dieser Problematik befassen. Neben international standardisierten Messverfahren, die von internationalen Organisationen (World Bank) initiiert wurden, handelt es sich dabei um ausgewählte Ansätze, die qualitative Methoden der Datenerhebung und -analyse beim Studium des sozialen Kapitals anwenden. Zum Schluss führen wir einige Anmerkungen zu den Untersuchungsansätzen des Sozialkapitals und zur Gliederung des Studiums an. Der Anhang enthält die Operationalisierung (Wortlaut der Fragen aus dem Fragebogen), die in dem Forschungsprojekt "Sozialer und kultureller Zusammenhalt 2006" zur Messung des (individuellen mobilisierenden / interaktiven, kollektiven) sozialen Kapitals verwendet wurde.
Schlüsselworte
soziales Kapital, Sozialkapital, Konzepte des sozialen Kapitals, Theorie des sozialen Kapitals, Typologie und Messung des sozialen Kapitals, kollektives/gemeinschaftliches Sozialkapital, individuelles Sozialkapital: mobilisierendes und interaktives Sozialkapital
Zusammenfassung
Der erste Teil der Übersichtsstudie bringt eine detaillierte Übersicht der theoretischen Konzeptualisierung, der Typologien und Theorien des sozialen Kapitals, der zweite Teil widmet sich den entsprechenden Messverfahren und zeigt Beispiele von Forschungsinstrumenten und Projekten auf. Die Problematik des Sozialkapitals wurde, obgleich der Begriff selbst relativ jung ist, bereits seit Anfang der Soziologie untersucht, insbesondere seit den 70. Jahren in der Wirtschaftssoziologie im Rahmen von Analysen sozialer Netzwerke. Wir stellen die Konzepte von vier Autoren des Sozialkapitals näher vor: Bourdieu (Instrument der Klassenreproduktion), Coleman (Normen der Kooperation bei der Erziehung und in der Gemeinschaft), Putnam (positive Auswirkungen der Assoziierung der Menschen für die Gesellschaft), Lin (mobilisierungsfähige in der sozialen Struktur verwurzelte Ressourcen). Wir widmen uns ebenfalls dem ökonomischen Ansatz, bei dem wir das Konzept G. Beckers (Milieupräferenz als Verbrauchsnorm) näher erläutern. Kritisch konfrontieren wir den Ansatz von Bourdieu mit dem von Coleman und Putnam. Wir zeigen bislang vernachlässigte Erkenntnisse auf, z.B. dass Bourdieus Theorie eine Theorie der Klassenreproduktion und nicht, wie in der Tschechischen Republik häufig missverstanden, eine Theorie der rationalen Wahl ist. Ferner stellen wir heraus, dass es, wenn man vom sozialen Kapital als einem Privatgut spricht, angemessener ist, auf die heute von Nan Lin repräsentierte soziologische Tradition des Studiums von Ressourcen im Kontext sozialer Netzwerke zu verweisen (Granovetter, Lin, Burt, Flap, de Graaf u.a.). Wir erörtern auch die Frage, ob man das soziale Kapital wirklich als Kapital bezeichnen kann und ob es sich um ein öffentliches oder um ein privates Gut handelt.
Wir empfehlen die Unterscheidung zweier Paradigmen des sozialen Kapitals, eines als individuelle Ressource (insbesondere die ökonomische Soziologie und die Bildungssoziologie) und das gemeinschaftliche Potential (Politologie und Ökonomie). Diese Paradigmen stellen wir anhand zweier Theorien vor. Das erste ist die Theorie des instrumentalen Handelns mit Hilfe sozialer Ressourcen (Lin 2001), das zweite das Modell der Herausbildung sozialen Kapitals „Putnam-plus“ (Halpern 2005), die im Zusammenhang mit Putnams Demokratietheorie erwähnt wird.
Wir entwerfen ein eigenes für Messungszwecke abgeleitetes konzeptuelles Schema, welches die Auswirkungsstufen des sozialen Kapitals berücksichtigt. Wir unterscheiden individuelles mobilisierendes Sozialkapital (als Ressource des individuellen Vorteils), kollektives Sozialkapital (positive externe Effekte der Assoziierung als Kollektivgut) und individuelles interaktives Sozialkapital (Sozialibität des Einzelnen zum Vorteil beider o.g. Typen). Diese Perspektive verfolgt also nicht nur die Logik öffentliches – privates Gut, sondern spiegelt die beiden Ebenen der Bedeutung sozialer Netzwerke für den Einzelnen wider (für die Verinnerlichung von Normen wichtige Sozialibität gegen Potential der für den eigenen Vorteil mobilisierbaren Kontakte).
Detailliert analysieren wir die verschiedenen Typologien des sozialen Kapitals, die seine Auswirkungen sowie die Forschungsansätze erläutern, insbesondere überbrückende (Verbindung verschiedener Gruppen), bindende (Kohäsionsbildung von Gruppen, die jedoch zum Ausschluss von anderen beiträgt) und verbindende Effekte (vertikale Beziehungen zwischen formaler Autorität und Hilfsbedürftigen). Der zuletzt erwähnte Typ wirkt sich vor allem in Transformationsländern auf die wirtschaftliche Entwicklung aus. Des Weiteren erwähnen wir Typen wie den strukturell/kognitiven, den privat-personalisierten/kollektiv-öffentlichen Typ u.a.
Des Weiteren zeigen wir auf, dass das soziale Kapital in den sich transformierenden postkommunistischen Ländern seine Eigenheiten hat, die in den theoretischen und empirischen Ansätzen berücksichtigt werden müssen. Dabei handelt es sich insbesondere um die stärkere Bedeutung von sozialen Netzwerken und die Rolle unformaler Zusammenschlüsse gegenüber der im konventionellen Demokratiemodell betonten formalen Partitipation. Ein eigenes Kapitel widmen wir dem Studium des sozialen Kapitals in der tschechischen Soziologie, die dieses Konzept vor Aufkommen des (mit Coleman und Putnam verbundenen) kollektiven Typs anwandte, vor allem bei der Analyse der innergernerationellen Mobilität nach 1989, insbesondere als Faktor, der beim Aufstieg in die Eliten eine Rolle spielt (Možný, Matějů). Infolgedessen wird im Rahmen des Diskurses des Sozialkapitals im tschechischen Umfeld dem kollektiven Typ (soziales Vertrauen, bürgerliche Partitipation) erst in den letzten Jahren Aufmerksamkeit gewidmet.
Der zweite Teil der Studie befasst sich mit den Ansätzen und Verfahren zur Messung des sozialen Kapitals. Nach einer einführenden konzeptuellen Debatte bringen wir Beispiele von Messverfahren des individuellen Sozialkapitals, detailliert stellen wir die bei uns bislang vernachlässigten drei Generatorenarten (Namen-, Positionen- und Ressourcengeneratoren) zur Messung der Ressource im sozialen Netzwerk des Respondenten vor. Bezüglich des kollektiven Typs widmen wir uns den Verfahren zur Messung des soziales Vertrauens (sog. Rosenberg-Skala, Yamagishi-Index). Des weiteren informieren wir über die Messverfahren bei R. Putnam (Social Capital Index, Social Capital Community Benchmark Survey), über die an diese anknüpfenden Ansätze, über die Instrumente der Weltbank (SC-IQ und SOCAT) sowie über alternative Wege, bei denen eine qualitative Methodologie zur Anwendung kommt. Danach widmen wir uns Projekten, die sich mit der Untersuchung der Bildung und der Auswirkungen des sozialen Kapitals befassen, sowie ausgewählten Bereichen der einschlägigen Studien (Einfluss auf die Gesundheit und lokale wirtschaftliche Entwicklung), ergänzt um Daten- und Informationsquellen, die im Internet zur Verfügung stehen (detailliert im Anhang). Bei der abschließenden Bewertung der Entwicklung der Erforschung des sozialen Kapitals unterscheiden wir in den letzten zwei Dekaden vier Phasen - den prä-empirischen Zeitraum; den kollektivistischen Ansatz in der sekundären Analyse; den Versuch einer Konzeptualisierung und Entwicklung primärer Forschungen, die Standardisierung des Konzepts für internationale Vergleiche und die Wiederbelebung des Interesses an der individuellen Perspektive - anschließend zeigen wir weitere Perspektiven für die zukünftige Forschung auf.
Zum Schluss unterstreichen wir die Notwendigkeit der Berücksichtigung unterschiedlicher Effekte des sozialen Kapitals sowie dessen Auswirkungen in verschiedenen Milieus und auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen. Im Falle des sozialen Kapitals gilt nämlich „context matters“ mehr als bei allen anderen Formen von Kapital. Der Anhang enthält die von uns angewendete Operationalisierung (Wortlaut der Fragen) der drei genannten Ebenen des sozialen Kapitals in der repräsentativen Erhebung in der tschechischen Bevölkerung Sociální a kulturní soudržnost 2006 (Sozialer und kultureller Zusammenhalt 2006).
Trotz eines beträchtlichen Chaos, das in den vergangenen zehn Jahren bei der Untersuchung des sozialen Kapitals entstanden ist, lässt sich zumindest eine grundsätzliche Übereinstimmung bei allen Forschern finden: Stets handelt es sich um eine Form der menschlichen Gegenseitigkeit, also um soziale Netzwerke und in diesen verankerte Normen der Reziprozität (aber auch der sozialen Kontrolle), die gemeinsam Ressourcen darstellen. Nichtsdestoweniger ist im tschechischen Umfeld immer wieder darauf hinzuweisen, dass Implikationen und Kontext, in dem das Sozialkapital theoretisch und empirisch untersucht wird, sich sehr von Fall zu Fall unterscheiden. Das heißt, ob es sich um Ressourcen handelt, die im individuellen Handeln angewandt werden können (z.B. Unterstützung des wirtschaftlichen Austauschs, Arbeitssuche, Kinderbeaufsichtigung), oder ob es sich um Auswirkungen dieser Ressourcen handelt, d.h. um positive externe Effekte menschlicher Interaktion für die größere Gemeinschaft (Vertrauen in den Markt, Kriminalitätsvorbeugung u.v.a.). Nicht zu vernachlässigen ist auch die Frage, ob das kollektive Handeln von Netzwerken für andere Gruppen bzw. für die ganze Gesellschaft positive oder negative Auswirkungen mit sich bringt.
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