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2007:2 Der institutionelle Hintergrund der tschechischen Soziologie vor der Machtergreifung des Marxismus |
Zdeněk R. Nešpor |
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Die Studie skizziert Entwicklung der tschechischen Soziologie bis 1948, gegliedert in die Periode der Etablierung der Soziologie als selbständiger Hochschuldisziplin (G. A. Lindner, T. G. Masaryk, die katholischen Soziologen), die Periode der Masaryk-Schüler, die zwar Soziologie-Katheder aufbauten, sich der empirischen Soziologie jedoch nur teilweise widmeten (I. A. Bláha, E. Chalupný, J. Král), und schließlich der Periode der dritten vormarxistischen Generation von Soziologen, die in der sog. „Brünner“ und „Prager“ Soziologieschule diese Disziplin tatsächlich praktizierten. Die bislang weniger bekannte Geschichte der tschechischen Soziologie zur Zeit des Zweiten Weltkriegs wird detailliert aufgezeigt, und die Skizzierung endet mit einem Abriss der kurzen Nachkriegsexistenz und anschließenden Liquidierung nach 1948.
Neben dieser äußerst vorläufigen Skizzierung bringt die Studie auf Grundlage von Archivuntersuchungen grundlegende Informationen über soziologische Forschungsstätten, wissenschaftliche Gesellschaften und Fach- bzw. populärwissenschaftliche Zeitschriften. Die wichtigsten Hochschul-Forschungsstätten waren die Soziologieseminare an der Prager und der Brünner philosophischen Fakultät, die es bereits in der Zweit zwischen den Kriegen gab und die nach dem Zweiten Weltkrieg wiedereröffnet wurden (bis 1949/1950), des weiteren die Freie Schule für Politiklehre (1928–39) und die Hochschule für Politik und Sozialwesen (1945–49, bzw. 1953). Weitere wichtige soziologische Einrichtungen waren u.a. das Staatliche Statistikamt, das Sozialinstitut und in den Jahren 1946–50 das Tschechoslowakische Meinungsforschungsinstitut. An der Formung der tschechischen Sociologie waren auch wissenschaftliche Gesellschaften in entscheidendem Maße beteiligt, die wichtigste war die Masaryk-Gesellschaft für Soziologie (1925–48, bzw. 1950), die auch die Zeitschrift Sociologická revue herausgab und die (zunächst nicht formal organisierte) Gesellschaft für soziales Forschen (gegründet 1937), die die Zeitschrift (Sociologie a) Sociální problémy herausgab.
Die Arbeit wird ergänzt durch ein Verzeichnis und die Grundcharakteristiken der Archivfonds der bis 1948 wirkenden tschechischen Soziologen sowie durch Anlagen bezüglich der Entwicklung des institutionellen Hintergrunds der tschechischen Soziologie.
Schlüsselworte
Soziologie – Geschichte; Soziologie – Forschungsstätten; tschechische Soziologie, 20. Jahrhundert; Brünner Soziologieschule; Prager Soziologieschule
Zusammenfassung
Die Studie befasst sich in erster Linie mit Forschungsmaterial und stellt den institutionellen und organisatorischen Aspekt der Entwicklung der tschechischen Soziologie bis zu deren Liquidierung nach der kommunistischen Machtergreifung im Jahre 1948 vor. Sie ergänzt und korrigiert damit die bisherige partielle Verarbeitung dieses Themas, insbesondere die ideologisch eingefärbten, tendenziösen und unvollständigen Werke Antonín Vaněks. Der erste Teil bietet eine grobe Skizzierung der Entwicklung der tschechischen vormarxistischen Soziologie, es folgen insbesondere durch Archivstudium gewonnene Profile der damaligen soziologischen oder der Soziologie verwandten Forschungsstätten, wissenschaftlichen Gesellschaften und Zeitschriften, sowie eine Übersicht der Archivfonds der bis 1948 wirkenden tschechischen Soziologen.
Die vorläufige Skizzierung der Entwicklung der tschechischen Soziologie bis 1948 unternimmt nicht den Versuch einer eingehenderen Analyse der Entwicklung des tschechischen sziologischen
Denkens und ersetzt auch nicht eine noch zu leistende komplexe Verarbeitung dieser Problematik, sie stellt jedoch eine Anleitung für Folgestudien dar und bringt dabei auch eine Reihe neuer Erkenntnisse. Die Geschichte der tschechischen Soziologie wird in der Regel wie folgt gegliedert: (1.) die Periode der Etablierung der Soziologie als selbständiger Hochschuldisziplin (G. A. Lindner, T. G. Masaryk, die katholischen Soziologen), (2.) die Periode der Masaryk-Schüler, die zwar Soziologie-Katheder aufbauten, sich der empirischen Soziologie jedoch nur teilweise widmeten (I. A. Bláha, E. Chalupný, J. Král; hierzu gehört auch E. Beneš und weitere Persönlichkeiten, die eher am Rande des damaligen Mainstreams der tschechischen Soziologie standen – z.B. A. Uhlíř), und schließlich (3.) die Periode der dritten vormarxistischen Generation von Soziologen, die diese Disziplin tatsächlich praktizierten und der sog. „Brünner“ (B. Zwicker, K. Galla, M. Hájek, J. Hanáček, A. Obrdlík, J. Obrdlíková, V. Slaminka, J. Šíma) und „Prager“ Soziologieschule zugeordnet werden (O. Machotka, J. Mertl, Z. Ullrich, J. Voráček), zu diesen gehören freilich auch deren Lehrer Bláha und Chalupný bzw. Král. Die Brünner und Prager Soziologieschulen existierten neben- und gegeneinander über die gesamten dreißiger und vierziger Jahre. Sie unterschieden sich insbesondere in der methodischen Auffassung von der Soziologie und in den Ansichten über die Praxisanwendung soziologischer Erkenntnisse, nicht zuletzt auch in der Rezeption des Werkes von T. G. Masaryk, der von den Brünner Forschern bevorzugt wurde, während die Prager Gruppe vom Stand der damaligen europäischen und internationalen Soziologie ausging und empirische Forschung bevorzugte. Mit Ausnahme der „Konvertiten zum Marxismus“, deren organisatorisches Engagement während des Zweiten Weltkriegs recht problematisch war (K. Galla, V. Kadlec, J. Šíma), mussten beide Schulen bald nach 1948 enden.
Der den soziologischen Hochschulforschungsstätten gewidmete Teil bringt einen Abriss des Soziologiestudiums im Beobachtungszeitraum und widmet sich detailliert dem Prager (gegründet 1919) und dem Brünner Soziologieseminar (1921) an den entsprechenden Philosophiefakultäten, die die Basis der Brünner bzw. Prager Soziologieschule bildeten. Sehr wichtig war auch die Prager Freie Schule für Politiklehre (1928–39), an der Anhänger beider Richtungen aufeinandertrafen, und nach dem Zweiten Weltkrieg die Hochschule für Politik und Sozialwesen in Prag (1945–49 bzw. 1953), sowie die Hochschule für Sozialwesen in Brünn (1947–49). Weitere wichtige soziologische Einrichtungen waren das Staatliche Statistikamt (gegründet 1919), das Sozialinstitut beim Sozialministerium (1919–41), die Kommission für die Soziologie des ländlichen Raumes der Tschechischen Landwirtschaftsakademie (1924–52), das Tschechoslowakische Auslandsinstitut (1928–41, erneuert 1945) und das Tschechoslowaksiche Meinungsforschungsinstitut beim Informationsministerium (1946–50).
An der Formung der tschechischen Soziologie waren in den 20. bis 40. Jahren auch wissenschaftliche Gesellschaften in entscheidendem Maße beteiligt: die Masaryk-Gesellschaft für Soziologie (1925–48 bzw. 1950), die Gesellschaft für Sozialforschung (gegründet 1937), das Schlesische Institut (1906–57), der Soziologische Kreis der Prager Hochschulstudenten (1946–50), der Verband für die Gründung und Pflege eines Privatinstituts der soziologischen und philosophischen Wissenschaften (1937–52) und der Militärisch-soziologische Kreis (1934–39?). Am wichtigsten waren die beiden Erstgenannten, zusammen mit der Brünner Soziologieschule und der Zeitschrift Sociologická revue, beziehungsweise der Prager Schule und der Zeitschrift (Sociologie a) Sociální problémy. Die Gesellschaft für Sozialforschung war eher ein exklusivistischer Kreis, der die moderne empiristische Soziologie pflegte, während die Masaryk-Gesellschaft für Soziologie allen tschechischen Soziologen offenstand und sich stark der Popularisierung der Soziologie widmete, wobei die wissenschaftlichen Ergebnisse dieser Gesellschaft freilich schwächer waren. In der Zeit des Zweiten Weltkrieges wandelte sich Gesellschaft (in den Jahren 1941–45 unter der Bezeichnung Tschechische Soziologie-Gesellschaft) von einem wissenschaftlichen Institut in eine „kommerzielle“ Forschungs- und Bildungseinrichtung. Obgleich an ihrer Spitze formal E. Chalupný und I. A. Bláha standen, übernahmen de facto K. Galla und J. Šíma die Führung. Die in diesen Zeitraum fallende Tätigkeit „rettete“ die tschechische Soziologie zwar in organisatorischer Hinsicht, die Qualität der Forschung ging jedoch sehr stark zurück. Die Kritik an dieser Tätigkeit und an ihren Protagonisten führte nach der Befreiung zum Auseinanderfall der Masaryk-Gesellschaft für Soziologie, von der nur der Brünner Ortsverband tätig blieb. Nach dem Februar 1948 war dieser sowie weitere wissenschaftliche Gesellschaften freilich dem Treiben der sog. Aktionsausschüsse bzw. den späteren ministerialen Verboten ausgesetzt. Die einzige wissenschaftliche Gesellschaft, die (im Geheimen) weiter bestand, war die marginale Gesellschaft für Sozialforschung.
Die letzten zwei Abschnitte der Studie stellen bibliographische und inhaltliche Charakterisierungen von Zeitschriften dar, in denen tschechische Soziologen in größerem Maße publizierten, sowie eine Liste und Charakterisierung erhaltener persönlicher Archivfonds. Aus der Zeit, die der Gründung der beiden oben genannten in Konkurrenz zueinander stehenden Fachzeitschriften (Sociologická revue und Sociální problémy) vorangingen, sind u.a. die Zeitschriften Athenaeum, Časopis katolického duchovenstva, Česká mysl, Naše doba, Parlament und Sociální revue genannt; parallel zu den Publikationsbühnen der Brünner und Prager Soziologieschulen waren insbesondere die Filosofická revue, Kruh, Naše zahraničí, Ruch filosofický und Veřejné mínění von größerer Bedeutung.
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