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2006:9 Soziale Stellung und Lebensstil in der tschechischen Gesellschaft |
Jiří Šafr |
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Die Studie befasst sich mit zwei Themen zur Differenzierung von Lebensstilen, Kulturkonsum und sozialer Stratifizierung. Das erste Thema stellt die Hypothese auf, dass sich die sozialen Schichten in Tschechien durch unterschiedliche Lebensstile auszeichnen, das zweite Thema ist die soziale Verankerung der kulturellen Allesfresserei. In der Einleitung werden die theoretischen Konzepte und die Forschungsagenda der kulturellen Differenzierung und Stratifizierung zusammengefasst. Es werden drei Theoriemodelle der Beziehung von sozialer Schicht und Kultur vorgestellt: das homologe, das postmodern- individualistische und das kulturell omnivore (kulturelle Allesfresserei). Der zweite Teil bringt eine Analyse der Forschungsdaten von Market & Media & Lifestyle TGI 2004 (MEDIAN s.r.o.).Wir überprüften zunächst die Hypothese der Homologie der sozialen Schichten und der Lebensstile in drei Dimensionen: Geschmack und die mit der Hochkultur verbunden Aktivitäten, Luxuskonsum und gesunder Lebensstil. Bis auf den insbesondere durch Bildung und Einkommen strukturierten gesunden Lebensstil sind die verbleibenden zwei Bereiche des Lebensstils in der Sphäre von Geschmack/Aktivitäten der Hochkultur und des Luxuskonsums auch hierarchisch an die soziale Schicht gebunden (sozio-ökonomische ABCDEKlassifizierung nach Haushaltsstellung). Einen starken Einfluss üben aber auch andere Faktoren aus, insbesondere Geschlecht, Alter und Großstadt. Die Grenze der kulturellen Differenzierung verläuft durch die Schichten A, B, C und die unteren Schichten D, E. Des weiteren untersuchten wir die soziale Strukturierung der kulturellen Allesfresserei im Bereich des allgemeinen Interesses an Medienthemen. Die Allesfresser von Medienthemen stammen häufiger aus höheren durch Bildung und Haushaltseinkommen indizierten Statusgruppen,wobei der Einfluss der sozialen Schicht jedoch bei Gegenprüfung anhand anderer Merkmale eher schwach ist. Beziehungen zwischen Kulturkonsum und Lebensstil und der vertikalen sozialen Stellung sind in Tschechien vorhanden, weshalb die postmoderne Stratifizierungstheorie nicht als geeignetes Modell erscheint, mit dem die soziale Struktur in Tschechien glaubwürdig erklärt werden könnte.
Schlüsselworte
Lebensstil, soziale Schichten, Kulturkonsum, kulturelle Allesfresserei, Hochkultur, Luxuskonsum, gesunder Lebensstil
Zusammenfassung
In dieser Studie wird die Beziehung zwischen Lebensstil, Kulturkonsum und Stratifizierung in der heutigen tschechischen Gesellschaft untersucht. Wir suchten eine Antwort auf die Frage, in welchem Maße der Umfang des verkörperten Kulturkapitals zwischen den sozialen Schichten hierarchisch angeordnet ist. Auf allgemeiner Ebene interessieren wir uns dafür, wie kulturelle Handlungen und Geschmack symbolische Grenzen zwischen den sozialen Schichten ziehen.
Im ersten Teil wird der theoretische Rahmen der Untersuchung von Lebensstil, Kulturkonsum und Stratifizierung gemeinsam mit den Fragen der Konzeptualisierung und Messung von Lebensstil und kulturellem Geschmack diskutiert. Es werden drei Theoriemodelle der Beziehung von sozialer Schicht und Kultur vorgestellt: das homologe, das postmodern-individualistische und das kulturell omnivore. Laut homologer Argumentation stellen die sozialen Schichten spezifische Lebensstile dar, da sie ein spezifisches Niveau und unterschiedliche Zusammenstellungen spezifischer Formen von Kapital aufweisen. Distinktive Muster des Kulturkonsums helfen bei der Entwicklung und Bewahrung der Identität der sozialen Schicht oder deren Fraktion. Das Modell der postmodernen Individualisierung behauptet dagegen, dass Lebensstile und Konsum nach und nach diversifiziert und zersplittert wurden, so dass die bestehende Inflation des Verbrauchergeschmacks nicht allein durch die gesellschaftliche Stellung erklärt werden kann. Die Menschen erkennen und teilen keine feststehende kulturelle Hierarchie mehr, die Unterschiede im Kulturkonsum zwischen den sozialen Schichten wurden an den Rand gedrängt.
Die mittlere Perspektive zwischen diesen beiden Theorien nimmt das neuere Modell der „kulturellen Allesfresserei“ ein. Nach der Hypothese „Allesfresserei vs. Abgrenzung“ (omnivore-univore thesis) wurde die abgegrenzte Hochkultur als Statusmerkmal nach und nach durch eine kosmopolite Allesfresserei ersetzt. Gruppen mit hohem Status können ein zunehmend größeres Spektrum konsumieren (Allesfresser) als andere. Kenntnisse und Teilhabe an allen Kulturformen werden gleichzeitig zu einer Statusquelle. Die privilegierten Schichten behalten nicht nur ihre exklusive Hochkulturpräferenz, sondern nehmen sich auch des Konsums der Popkultur und des Massengeschmacks an, während die unteren Schichten lediglich den für sie typischen mit der niedrigen Kultur zusammenhängenden Geschmack beibehalten (Abgrenzung).
Im zweiten Teil der Studie werden die Ergebnisse einer Analyse der Strukturierung von Lebensstil und Kulturkonsum anhand der Daten der Erhebung Market & Media & Lifestyle TGI 2004 (MEDIAN s.r.o.) vorgestellt. Zunächst wird die Hypothese überprüft, der gemäß die sozialen Schichten (Social Grades ABCDE gemäß Status des Haushaltsvorstands) in Tschechien hierarchisch mit einem unterschiedlichen Lebensstil in drei Bereichen assoziiert sind: Geschmack und Aktivitäten i.Z. mit der Hochkultur (Besuch von kulturellen Veranstaltungen, Kunstsendungen im Fernsehen, Interesse an klassischer Musik, Gedichten usw.), Luxuskonsum (exklusive Mode, Einkauf teuerer Kleidung, Luxus- und Markenwaren usw.) und gesunder Lebensstil (Gesundheit, Ernährung, Bevorzugung von Bio-Produkten usw.). Anschließend untersuchten wir die soziale Strukturierung der kulturellen Allesfreisserei hinsichtlich des allgemeinen Interesses an Medienthemen aus dem Bereich Information und Unterhaltung, die mit der Hochkultur (Geschichte, Bildung, Kunst u.ä.) und der niedrigen Kultur (Vermischtes, bekannte Persönlichkeiten, Sex u.ä.) zusammenhängen.
Eine allgemeine Hypothese proponiert eine hierarchische Assoziierung zwischen der sozialen Schicht auf der einen und dem unterschiedlichen Lebensstil auf der anderen Seite. Dies gilt, zusammen mit dem starken Einfluss der Bildung als Form des institutionalisierten Kulturkapitals sowie dem Haushaltseinkommen, für zwei Bereiche: den Geschmack und den mit der Hochkultur verbundenen Aktivitäten, nicht jedoch für den gesunden Lebensstil. Letzterer wird nicht durch die soziale Schicht strukturiert, sondern nur durch Bildung und Einkommen zusammen mit dem starken Einfluss von Gender und Alter. Die Analyseergebnisse bestätigen somit frühere Feststellungen vom Ende der 90. Jahre hinsichtlich einer starken Assoziierung von Hochkultur und gesellschaftlicher Stellung. Einen starken Einfluss auf die untersuchten Sphären des Lebensstils haben jedoch auch andere Faktoren, insbesondere Geschlecht und Alter sowie die zentrale Position von Prag und anderen Großstädten. Die Grenze der kulturellen Differenzierung verläuft durch die Schichten A, B, C mit Affinität zu Hochkultur und Luxuskonsum sowie durch die unteren Schichten D, E. Daher scheint es vorzeitig, die postmoderne Stratifizierungstheorie anzunehmen, die die Schwächung der Kulturhierarchie und die Aufweichung ihrer Beziehungen zur sozialen Schicht betont; dieses Modell scheint nicht geeignet, die soziale Struktur der tschechischen Gesellschaft glaubwürdig zu erklären. Insgesamt entsprechen die Analyseergebnisse des tschechischen sozialen Raums damit den empirischen Feststellungen der meisten entwickelten Länder.
Die kulturelle Allesfressei im Bereich des Interesses an Medienthemen ist bei den durch Bildung und Haushaltseinkommen indizierten höheren Statusgruppen wahrscheinlicher, ein direkter Einfluss der sozialen Schicht ist jedoch unklar. Dies könnte dadurch verursacht sein, dass sich eine distinktive Klassenkultur, die in dieser neuen Form des Kulturkapitals verankert wäre, in der tschechischen Gesellschaft bislang nicht entwickelt hat. Nichtsdestotrotz lässt die Tatsache, dass die Gruppe derjenigen, die die größte Vielfalt von Medienthemen konsumieren (Allesfresser), in großem Maße mit der Gruppe mit dem größten Kulturkapital (Geschmack und Aktivitäten der Hochkultur) übereinstimmt, darauf schließen, dass die kulturelle Allesfresserei in Zukunft wahrscheinlich die Grundlage für die Ziehung der Grenze zum Elite-Status bilden wird. Dabei bleibt die Frage, in welchem Maße sie zur Kultur der dominanten Statusgruppe wird. Auf der anderen Seite können sich die distinktiven Muster der Hochkultur der höchsten Statusgruppen nämlich parallel im homologen Sinne entwickeln, im Zusammenhang mit der Bildung von sozialen Schichten auf der Grundlage des im Verlauf der postkommunistischen Transformation erworbenen ökonomischen Kapitals. Die Analyseergebnisse insbesondere hinsichtlich des Luxuskonsums deuten darauf hin, dass die snobistische Ausschließlichkeit ebenfalls, wenn nicht gar noch stärker, als Statusmerkmal fungiert.
Beim Studium der heutigen Gestalt des Stratifizierungssystem der tschechischen Gesellschaft in der Perspektive der Ziehung symbolischer Grenzen mit Hilfe von Kulturpraktiken sollten wir zwei parallel verlaufende, dabei aber theoretisch gegenläufige Prozesse bedenken: zum einen den mit der Modernisierung und Globalisierung verbundenen Prozess der Individualisierung, bei dem gerade die kulturelle Allesfresserei hauptsächlich die jüngeren Gruppen mit hohem Bildungskapital betrifft, und auf der anderen Seite den Prozess der allmählichen Klassenstrukturierung, zu dem es im Zuge der postkommunistischen Transformation u.a. auch im Zusammenhang mit der Kristallisierung unterschiedlicher Statuskomponenten kam.
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