Die Sprache des Treppenhauses

Meglio non saper nulla che aver idee fisse.
(Lieber nichts wissen als fixe Ideen haben.)

Am Anfang ist die Beobachtung. Wir beobachten und hören Formicidae,
Fische, das Gras, den Mond und den Sand und glauben, daß auch sie uns
beobachten. Es ist ziemlich wahrscheinlich, daß sie es tun. Vielleicht
auch nicht. Dann wenden wir unsere Aufmerksamkeit anderswo hin, wir
gehen essen und trinken, und wenn wir zurückkehren, finden wir die
Ameisen, die Fische, die Wolken und das Gestein, unsere Freunde, nicht
mehr. Wir sehen sie nicht, wir hören sie nicht. Zum Glück erinnern wir
uns an sie.
Das nächste mal werden wir sie besser zu schätzen wissen, sagen wir
uns, wir fangen sie lieber in einem kleinen Käfig ein, nehmen sie mit,
versuchen das herauszufinden, was man nicht begreifen kann: wer die
Ameisen sind und was sie uns wollen, wohin sie sich verkriechen und
warum, was wohl jetzt die Fische machen, wie man die Wolken und die
Sonne zurückrufen kann. In dieser Situation beginnen wir Hilfen und
Instrumente zu benutzen, die wir nicht verstehen, die wir ergreifen weil
sie zur Hand sind. Wir stochern mit einem Stock in den Ameisen, pulen
den Fischen im Auge herum, treten gegen die Steine, versuchen mit
einem Schneeball die Wolken zu erreichen und mit Geschrei die Sonne
herbeizurufen. Manchmal funktioniert es. Manchmal wieder nicht.

Model und Analogie

Das Modellist eine Art der Beobachtung unter Berücksichtigung der
Form. Die Analogieist eine Art der Überlegung - sie konstruiert
Formen.
Das Modell wird allmählich zum Modell. Es wird zum Modell, sobald das
Beobachtete, in einem gewissen Maße, aufhört es selbst zu sein, sobald
es auf eine seiner Formen reduziert wird. Ein Pferd hört dadurch auf, ein
Pferd zu sein, es frißt nicht, es trinkt nicht, es scharrt nicht mit dem Huf,
es lacht nicht und schlägt nicht aus, aber es springt über ein Hindernis
und wirft den Reiter ab. Ein Modell wird dadurch imitierbar, seine
Imitation ist auch ein Modell. Je besser das Modell ist, je glaubwürdiger,
um so weniger echt ist es, um so weniger wahr. Es wird unabhängig
und erklärt ausschließlich sich selbst. Es ist aber nie vollkommen.
Es imitiert derjenige, der sich nicht gut erinnern kann, wer oft hinsehen
muß. Derjenige, der zu sehr beobachten muß, sieht schlecht. Wenn er
gut sehen würde, müßte er nicht so viel überlegen.
Die Analogie ist eine Art der Überlegung, begründet auf Verhältnissen.
Anders zu überlegen ist nicht möglich. Die Analogie hilft das zu erfassen,
was sich unserem Blick widersetzt. Sie konstruiert Muster-Formen,
Figuren auf der Grundlage des Gedankens: Ideen, Worte: Namen des

Verhältnisses, Sachen: der Ort wo sich das Verhältnis abspielt. Die
Analogie selbst ist nicht das Muster, die Form des Musters schafft sie mit
Hilfe der arithmetischen Proportion (um wieviel?), der geometrischen
Proportion (wie oft?), der harmonischen Proportion (die Methode mit
der man die vorigen kombiniert). Jede Analogie läßt sich durch den
Unterschied, die Art oder durch die Kombination beider ausdrücken. Wo
keine Analogie ist, ist Anomalie: Unstimmigkeit, Veränderung,
Erneuerung. Die Analogie behauptet nicht, daß das was hier gilt auch
dort gilt, sondern, daß das was dort und hier gilt eine Analogie ist: sie
hilft uns das zu begreifen, was wir direkt nicht sehen können.
Wenn wir nicht sehen, dann tritt die Analogie auf. Wenn wir die
Analogie benutzen, kommt die Sprache zum Wort.

Die Wissenschaften der Proportionen - die Mathematik

Die Mathematik ist ursprünglich die Wissenschaft der Proportionen, der
Beziehungen zwischen Zahlen. Zahlen, Numera, stellen an sich schon
Beziehungen dar, sind Namen von Proportionen, können auf diese Art
und Weise in Analogien treten, Inhalt von Analogien sein. In diesem
Sinne sind Zahlen Symbole für Proportionen, es hat keinen Sinn bei
ihnen zwischen „wie“ und „wie groß“ (qualis undquantus), ihrer
Größe und Qualität zu unterscheiden.
Die Zahl funktioniert also ursprünglich auf zwei Arten. Auf der einen
Seite beschreibt sie die Art und Weise, mit der die gegebene Tatsache in
eine Analogie tritt, die Möglichkeit, wie man die Substanz der gegebenen
Tatsache verstehen kann, und auf der anderen Seite ist sie gleichzeitig
der Name einer bestimmten Beschreibung der Tatsache. Einmal ist sie
Symbol, das vermittelt, einmal Zeichen, das man direkt lesen kann:
fühlen, sehen und hören. Wenn Gott zählt (er benutzt Zahlen -
Proportionen und Namen der Proportionen) entsteht die Welt.
Die Mathematik beginnt schrittweise beide Aspekte der numera
getrennt einzunehmen.
Auf der einen Seite ist die Geometrie, die Lehre der Zeichen, eine Art der
Semiologie, erklärt die Welt als Zeichen (Punkte), Dreiecke, Kreislinien
usw. (diese Art der Betrachtung des Weltalls dauert auf seine Weise bis
heute an). Schrittweise hören diese auf, erörterte und gelesene Zeichen
zu sein und werden zu Symbolen, die letztendlich fast vergessen sind; so
beginnen wir, in einem „finsteren Labyrinth“ herumzuirren, ist es
unmöglich von der Welt „menschlich ein einziges Wort zu begreifen“.
Auf der anderen Seite begreift die Arithmetik Zahlen nur als Symbole,
reduziert sie auf Namen von Proportionen und reduziert Zahlen als
Namen von Proportionen weiter auf Größen. der Mathematiker wird
zum Arithmetiker, beginnt im Sinne von addieren, subtrahieren,
dividieren und multiplizieren zu rechnen. Die Mathematik wird zum
Kalkül, zur Anzahl; die Größe, das Maß ist der einzige erkennbare
Charakterzug der Welt. Auch weiterhin wird alles gemessen werden.
Dadurch, daß die Geometrie schrittweise zum Gespräch über Symbole
wird (man vergißt oft die Bedeutungder Zeichen, die Zeichen verlieren
ihre Bedeutung, man kann sie nicht mehr lesen), verbindet sie sich

erneut mit der Arithmetik. So kehrt in die Mathematik neben dem Maßi
die Struktur zurück.
Die Mathematik, also das Maß und die Struktur, wird zur modernen
Wissenschaft, ihre Entwicklung beginnt. Die Wissenschaft wovon? Die
Ambitionen der Mathematik sind kolossal: sie will die Wissenschaft von
sich selbst sein.
Wenn der Mathematiker rechnet, entsteht schrittweise die Welt. Der
Mathematiker sieht die entstehende Welt nicht, sie fällt ihm nicht auf. Er
rechnet weiter. Die entstehende Welt fällt anderen auf:

„All diese [mathematische] Existenz, die rennt, hetzt, sich um uns herum
auseinanderlegt, ist von der Mathematik nicht nur durch ihre
Erkennbarkeit abhängig, sondern ist effektiv durch sie entstanden,
begründet auf ihr ihre auf diese oder jene Art gegebene Existenz. Und
dies, weil sich die Pioniere der Mathematik brauchbare Vorstellungen
von bestimmten Tatsachen geschaffen haben, aus denen Schlüsse,
Berechnungen, Ergebnisse entstanden, deren sich die Physiker
bemächtigten, die zu weiteren Ergebnissen kamen; zuletzt kamen auch
die Techniker, nahmen teilweise nur noch die Resultate, begannen mit
neuen Berechnungen, und es entstanden Maschinen. Und auf einmal,
als schon alles schön existierte, kamen die Mathematiker - diejenigen,
welche im Innern grübeln - darauf, daß etwas in den alleinigen
Grundlagen der Sache absolut nicht stimmt; in der Tat, sie schauten
nach ganz unten und befanden, daß die gesamte Konstruktion in der
Luft steht. Aber die Maschinen funktionierten! Hiernach müssen wir
glauben, daß das ganze Leben nur ein einziges unglaubliches Wunder
ist; wir leben es, aber eigentlich nur wegen eines Irrtums, ohne den es
nie entstanden wäre.

xiii

Am Anfang von Musils Beispiel steht die mathematische Berechnung, die
Theorie. Es geht also um eine sprachliche Angelegenheit. Zusätzlich zur
mathematischen Berechnung, zur Theorie, wird nach und nach die
Sukzession der Formen konstruiert. Die letzte von ihnen ist die
„wirkliche“ und funktionierende Einrichtung, offensichtlich ein
Automobil oder eine andere Maschine, die fährt und funktioniert. Ein
weiterer Teil der Welt ist entstanden. Am Ende von Musils Beispiel wird
jedoch ein Fehler in der Berechnung, in der Theorie, ja sogar in ihren
Grundlagen (in der Sprache) sichtbar. Die Berechnung, die Theorie (die
Sprache) ist fehlerhaft, und der Wagen (das Bild der Sprache) fährt. Der
Wagen fährt unabhängig von der fehlerhaften Theorie (der Sprache)?
Fährt er gerade deshalb, weil die Theorie fehlerhaft ist? Oder trotz der
Tatsache, daß die Theorie fehlerhaft ist?
Was also funktioniert hier nicht? Die Theorie (die Sprache), das
Automobil (die Wirklichkeit), das Automobil (das Bild) oder die
Beziehung zwischen ihnen?
Ein wirkliches Automobil könnten wir ohne die Sukzession der
Verwendung von Sprachen, von denen die letzte das Automobil wäre,
nicht herstellen. Die Sprache wird zum einzigen Vermittler der Tatsache.