Wer das Haus nicht verließ, der lernte nicht die Welt kennen, der
Philosoph lag da und versuchte seine Gedanken zu benennen.“

Die gesamte neuzeitliche Kultur kann man laut Flusseridurch eine
Analogie zwischen der Beziehung eines Weltbildes mit der Welt und der
Beziehung der Schrift (also einem Sequenzeintrag oder einer Chiffre
eines Bildes) mit der Welt charakterisieren, und danach wird sie durch
die breite Benutzung des Textes geformt, ermöglicht durch die Erfindung
des Buchdruckes.
Die Kultur, die vollkommen informiert, postmodern oder posthistorisch
ist (die Geschichte verliert ihren Sinn: nichts kann mehr passieren, der
Zuschauer, der Empfänger des Bildes der Geschichte, wird schrittweise
aus dem Bild der Geschichte hinausgedrängt, wird zum Zentrum von
Nachrichten, zum Zuschauer von Beruf, er sieht alles, er weiß nichts,
weder von der Welt noch von sich selbst; der Unterschied zwischen der
Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft geht verloren, der Raum
wird immer kleiner und die Zeit immer schneller, das Leben wird zum
ewig Anwesenden und wiederholt sich in einem Augenblick), kann man
laut Flusser, ähnlich wie die neuzeitliche Kultur durch die Analogie eines
Bildes mit der Schrift und eines Textes mit einem technischen Bild des
Textes charakterisieren, und desweiteren mit der Massenbenutzung der
technischen Bilder des Textes: durch reproduzierbare Photographien
und wiederholbaren Videobildern, kinetischen Aufzeichnungen, z.B.
Fernsehen, Internet, Computeranimation, Video usw., aber auch
Reklame u.ä. Diese technischen Bilder bilden den größten Teil unserer
Welt: vom „Inhalt“ nicht trennbare Etiketten auf Packungen (ohne sie
kann man die Inhalte nicht benutzen, niemandem gehört etwas, die
Inhalte können den Besitzer nicht wechseln, ohne Etiketten sind die
Inhalte „verwunschen“), allgegenwärtige Reklame, der Lauf des Lebens
wird vom Fernsehen, Computerbildern und -spielen bestimmt. Man kann
sich vor ihnen weder unter Wasser noch im Wald verstecken (nehmen
wir zum Beispiel den kürzlichen Fall eines Waldmenschen, der verhaftet
und später begnadigt wurde). Sie verfolgen die Verwünschung und die
Unbegreiflichkeit des Lebens und machen es zugänglich. Die
wiederholbare und damit ewige Welt der Bilder ist wirklicher als die
begriffliche Welt, sie erlaubt es, alles nochmals zu durchleben. Die
Volkommenheit stört den Widerstand zwischen dem Menschen und
dem, wie der Mensch in einer Welt der technischen Bilder dargestellt
wird, nämlich durch sein raffiniertes oder weniger aufwendig
konstruiertes Bild (Image). Diese Differenz kann man oftmals gerichtlich
lösen - zugunsten des Bildes. Menschenrechte werden nicht
vorausgesetzt, so werden nur die Ansprüche technischer Bilder grob
benannt, über die Verletzung von Menschenrechten spricht man nur,
wenn ein von der Kommission anerkanntes Dokumentationsmaterial zur
Verfügung steht, menschliche Eigenschaften werden eher den
technischen Bildern zuerkannt.

Die ursprünglichen Bilder, diejenigen, die an der Wand hängend
zwischen dem Menschen und der Welt standen, vermitteln die Welt und
wiederholden sie erneut auf dieselbe Weise, aber nie gleich. Die
Bedeutung eines Bildes besteht in seiner Fläche. Es ist möglich, es zu
sehen oder zu betrachten.
Ein Bild ist im Gegensatz zu einem Text synchron, es repräsentiert eine
größere Anzahl von Objekten und ihrer Beziehungen, die Reihenfolge
dieser Beziehungen ist nicht vorgeschrieben, sie haben keine kausalen
Zusammenhänge. Ein Bild kann man, ähnlich wie die Wirklichkeit, wenn
man dazu in der Lage ist, auf einmal als Zeichen zu „lesen“, es mit einem
Blick erfassen und begreifen. Bilder können jedoch auch ausgelegt
werden, sie stellen simultan eine größere Menge an Informationen dar,
bieten Raum für eine Interpretation, und alles wiederholt sich auf die
gleiche Weise in ihnen, genau so wie in der wirklichen Welt. Dort gibt es
keine direkte Konsequenz, Ursache und Folge sind nur eine Funktion der
Interpretation, eine Betrachtungsweise des Bildes also, wenn wir es nicht
in seiner Gesamtheit betrachten können, wenn wir seine Geschichte
nicht begreifen können, wenn wir es nicht auf einmal „lesen“ können.
Das, was sich gleichzeitig abspielt, auf der gleichen Fläche, kann man auf
verschiedene Weisen begreifen, die Kausalität ist eine Hilfe bei der
Auslegung, sie ist nicht die Auslegung selbst. Im Verlauf der Betrachtung
der Oberfläche des Bildes, entstehen unter seinen Elementen
Folgebeziehungen, ein Teil folgt erst nach dem zweiten Teil, wird erst
nach ihm betrachtet, entsteht deshalb, weil früher ein anderer geschah,
der Raum der Welt wird rekonstruiert. Die einzelnen Betrachtungen,
bzw. ihre Auslegungen, sind unter einander gleich, das eine dem
anderen, sind dekodierbar (gehören zu gleichen Bild). Im Gegenteil, eine
größere Anzahl linearer Auslegungen kann ein Bild schaffen. Auf diese
Weise der Interpretation hört die Welt auf, für den Menschen
unmittelbar zugänglich zu sein, sie wird mit der Hilfe von Auslegungen
von Bildern interpretiert, und die Bilder nehmen den Platz der Welt ein,
und statt daß die Bilder die Welt vermitteln, beginnen sie sie zu
verschleiern und zu vernebeln. Die Kausalität wird zur finalen
Betrachtungsweise der Welt anstelle eines Instrumentes zum betrachten.
So hören die Bilder nach und nach auf, gelesen und ausgelegt zu werden,
aus dem Zeichen wird ein Symbol, diese hört auf dechiffriert zu werden,
die Welt wird zu einer Zusammenfassung von Bildern - Symbolen. Aus
dem Bild wird ein Artefakt, aus dem nicht erkennbar ist, daß es für die
Orientierung des Menschen in der Welt geschaffen wurde.
Mit der Erfindung der Schrift beginnt der Kampf gegen die Macht des
Bildes. Gleichzeitig werden bildhaftes Gedächtnis und bildhaftes Denken
überflüssig. Bilder werden in Texte überführt, also in eine kausale,
schrittweise Niederschrift. Ein Teil des Textes folgt auf den anderen.
Ursache und Folge charakterisieren den Text und werden zur Grundlage
der Struktur der Welt. Kausales Denken und kausales Gedächtnis sind das
Mittel zu seiner Dechiffrierung. So wie im Text geht ein Ereignis einem
zweiten voraus, verursacht es. Es wird ein schrittweises, diachrones
Bewußtsein geschaffen, statt einem Bewußtsein ohne Folge und
offensichtlicher Ursache. Während auf einem Bild die Elemente des

Bildes neben einander stehen (zum Beispiel ein Sonnenaufgang oder das
Krähen eines Hahnes, der Gegenstand ist lediglich im Raum platziert),
nicht geordnet, in ihrer Reihenfolge veränderbar sind, folgen sie im Text
auf die eine oder andere Weise auf einander (im Text ist der
Sonnenaufgang der Grund für das Krähen des Hahnes oder umgekehrt,
im Text fällt der Gegenstand im Raum, steigt auf oder bewegt sich nicht).
An die Stelle der bildhaften Vorstellungskraft tritt die kausale
Vorstellungskraft.
Wenn wir nun ein Bild dechiffrieren wollen, müssen wir zuerst den Text
dechiffrieren, wenn wir die Kausalität aufheben wollen, müssen wir sie
zuerst als Chiffre zu begreifen lernen. Genau so wie sich früher Bilder an
die Stelle der Welt gestellt hatten, tritt nun der Text an die Stelle der
Bilder. Das kausale, logische Denken wird zum Ziel, nach dem
symbolischen Gedächtnis verliert auch das lineare Gedächtnis seine
Bedeutung. Die Struktur des Denkens entspricht nicht der Struktur der
Ausdehnung der Sache. Genauso wie die Verzauberung durch die Bilder
das Sehen der Welt verhindert hat, verhindert die Verzauberung durch
den Text die Möglichkeit die Bilder zu sehen. Das zum Selbstzweck
geschehende Schaffen kausaler Texte, möglicher Auslegungen, wird zum
Sehen der Welt. So haben sich die Texte nach und nach zwischen den
Menschen und das Bild geschoben, also auch zwischen den Menschen
und die Welt; der Mensch beginnt in der Funktion seiner kausalen Texte
zu leben. Die Bilder haben aufgehört, ihre ursprüngliche Funktion
einzunehmen: Bild zu sein gegenüber der Welt, und Muster zu sein für
den Text. Nun erfüllen sie dieselbe Funktion (Bild zu sein) gegenüber
den Texten: Bilder sind Bilder zu den Texten, erklären die Texte,
illustrieren sie. Die Texte werden zu einem Muster der Welt. So werden
sie schrittweise nicht vorstellbar (zum Beispiel wissenschaftliche Texte),
nicht übersetzbar in die Welt der Bilder. Sie sind jetzt nur noch Codes
des Codes, aus Zeichen für Symbole werden Symbole, so verlieren sie
ihre Referenz- und Dechiffrierfähigkeit, ihre Interpretation beschränkt
sich wiederum auf sie selbst, ihre Qualität ist anhand der Refernzmenge
meßbar. Einer ähnlichen Deformation unterliegt die Sprache. Wird eine
Chiffre in eine andere Chiffre übersetzt, relativ durch eine andere,
genauso nicht lösbare dechiffriert, kommen wir nicht groß weiter; ein
Ergebnis ist die Schaffung einer uniformen Welt gegenseitig
übersetzbarer Chiffren, Etiketten, die gegenseitig auf einander verweisen,
nichts jedoch bezeichnen. Sie in dieser Welt zu lösen, also außerhalb des
Textes, außerhalb der Sprache, kann jedoch nicht gelingen: ich weiß daß
ich nicht weiß, was ich weiß, anstelle des früheren: ich weiß, was ich
nicht weiß.

Wer nicht lebt - lebt

Die Inflation des gedruckten Textes (und der Sprache) ist der Beginn des
Zerfalls der Kultur, bis dato die Dreifaltigkeit der „Wahrheit“,
„Schönheit“ und des „Guten“, in drei selbständige Einheiten: in
Wissenschaft und Technik, in die schönen Künste und in die Politik für
breite gesellschaftliche Schichten. Die Kunst gelangt immer mehr in

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