Hamlets Analogie - von Schatten zu Automaten und zurück

Also jetzt aber mal im Ernst. Warum eigentlich leben? Das Wetter ist
schrecklich, das Leben wird durch die schleichende Kälte und den
unaufhaltsamen Regen vermiest. Die Zeitungen enthalten nur erfolglose
Vorhersagen, gute Ratschläge, wenig nützliche Anleitungen und
Verweise zum Fernsehen. Das, was wir nachmittags mit eigenen Augen
sehen, behält die Zensur im Namen der Information ein. Und zu all dem
droht die wirkliche Gefahr, daß lilafarbene Sakkos völlig aus der Mode
kommen. Das kann doch nicht einfach so durchgehen! Die Politik ist
eine Theatervorstellung; was auf der Bühne passiert, wissen jedoch auch
die Primadonnen nicht ganz genau, vor allem fehlt eine vernünftige
Handlung. Die Theaterstücke bringen wiederum nur Bilder von sich
selbst mit. Die Bilder spiegeln, so scheint es, außer neuen Nachrichten
nichts wider. In der Literatur wissen sie nicht, wohin sie sich vor
Verleumdungen und vor den Auslegungen, wie man es richtig verstehen
soll, retten sollen. Zu Hause verstecken sie sich nicht vor dem Wecker
und dem Fernseher, draußen wiederum nicht vor den Erfolgen der
Zwischenhändler mit hochgekrempelten Sakkoärmeln. Die Wissenschaft
erfindet Speisen von solcher Lieblichkeit, daß sie ständig Lust zum essen
hervorrufen, und andererseits sind sie so leicht, daß wir unbegrenzt
konsumieren können. Den kirchlichen Würdenträgern wachsen Hufe
und Hörner. Das staatliche Institut für Philosophie feiert auch Erfolge;
bald werden wir mehr von ihnen erfahren. Mehr noch als die Pest plagen
uns Ämter und zahlreiche andere Institutionen. Gemeinsam schieben wir
alle das wirkliche Leben auf eine spätere Zeit, bis zur Rente auf, noch
eher wird erst nach dem Tode gelebt werden. Ist dies alles denn ein
Leben? Wir leben in einer sich wandelnden Zeit!

I.

Ab dem siebzehnten Jahrhundert, nach der Verbrennung von Giordano
Bruno im Jahre 1600 auf dem Campo de’ Fiori, wird nach und nach das
Weltall nicht mehr vom Bild des Menschen abgeleitet. Die Vorstellung
der Welt als ein lebender Organismus, der mit dem Menschen durch
Kräfte und Analogien verknüpft ist, auf die man mit menschlichem
Sehnen und Willen einwirken kann, verliert sich. So enthält der Mensch
nicht mehr den Himmel und verliert dadurch auch die Möglichkeit, ihn
auszunutzen. Das All ohne Leben ist jedoch nichts. Harmonien,
Gestalten, Verhältnisse und Einigungen, die man früher erreichen
konnte, verlieren sich allmählich, und die Beschreibung der Welt, ihr
Verhalten, die Vergangenheit und die Zukunft werden nach und nach zu
einer wissenschaftlichen Angelegenheit. Die Verbindung mit der Welt
und dem Himmel wird unterbrochen, und so muß man andere
Verknüpfungen suchen: auf den Trümmern einer sterbenden und sich
auseinanderlegenden, vom Menschen abgekuppelten Welt, beginnen die

empirischen Wissenschaften wie Totengräber zu parasitieren. Sie reißen
Stücke ungeformter Welt aus der Natur und geben ihnen eine Gestalt -
informieren sie so, daß sie immer gleich greifbar bleiben. Weiterhin ist
hier, anstelle der Natur, nur noch eine tote Zusammenstellung uniformer
Informationen der Wirklichkeit. Die Natur verliert so ihre Natürlichkeit,
ist nicht spontan, ist ohne Seele und ohne Leben, kann sich also nach
Gesetzen und Regeln richten. Die wissenschaftliche Erkenntnis legt so
ihre Fundamente. Sie ist dem Lebenden nicht besonders zugetan, denn
sie ist ja selbst nicht lebendig: aus einer oder mehreren Beobachtungen
der selben Art möchte sie tote Bilder der Lebenden konstruieren. Statt
dessen zergliedert sie Dinge, nimmt sie auseinander und informiert ohne
Kenntnis der Wirklichkeit tiefer und tiefer, so weit sie gehen kann. Eine
Erscheinung wird auf zwei andere überführt, jede von ihnen auf weitere
und weitere usw. Und auf die Reste stürzen sich wie die Geier weitere
und weitere wissenschaftliche Bereiche. Die Philosophie sekundiert dem
ganzen völlig servil. Es beginnt die Ära des Fortschritts. Es nähert sich die
Zeit der allgemeinen Information - der vollkommen informierten Welt.
Das, was nur ein wenig lebendig bleibt - überlebt nicht. Das Leben wird
anhand einer toten Masse erklärt. Wir leben in einer sich wandelnden
Zeit.

II.

Dieses Vorgehen können wir zum Beispiel auch in der Literatur oder in
der Kunst verfolgen. Zu Beginn des vorigen Jahrhunderts entstehen in
Frankreich in reichlicher Anzahl Bücher mit ähnlichen Titeln: „Die
Physiologie des Arztes“, „Die Physiologie des Faulenzers“, „Die
Physiologie des verheirateten Mannes“, des weiteren Bücher, die von der
Physiologie des Schneiders, des Städters, über die Physiologie des
Geschmacks, der Ehe u.ä. sprechen. Schon früher können wir eine
analogische Reduktion, zum Beispiel den Menschen zum menschlichen
Typ, auch in der Kunst beobachten (z.B. bei Giacomo Ceruti, tätig in
Brescia 1720-1750, in den Bildern Die Wäscherin, Der Flickschuster
usw.). Auf den Trümmern der gestörten Welt wird einen neue Welt
gebaut. Die Toten werden schrittweise auseinandergenommen, entehrt.
Die Physiologie - die Wissenschaft von den Vorgängen in organischen
Körpern auf der Grundlage nichtlebender Bilder - ist ein literarisches Bild
der neuen Wissenschaft: der Bemühungen, durch das
Auseinandernehmen der Leichen dem Leben auf den Grund zu kommen.
In dieser Zeit wird auch das Buch publiziert Die Physiologie des
Geschmacks oder eine transzendente Meditation, eine theoretische,
historische und andere Einführung, gewidmet den Pariser
Gastronomen von einem Professor, der Mitglied vieler literarischer
und wissenschaftlicher Gesellschaften ist
.i Der Autor Brillat-Savarin
(1755 Belley - 1826 Saint Denis), der das Buch zwei Monate vor seinem
Tod herausgab, wollte aus der kulinarischen Kunst eine Wissenschaft
machen. Damit machte er sich unsterblich: wurde zum letzten
wirklichen Gourmet. Ein Major der Nationalgarde, der vor seinem Exil in
der Schweiz und später den Vereinigten Staaten, für sich und seine

Freunde ein Truthahnfrikassee mit Trüffeln zubereitete, kehrt im Jahre
1797 aus Amerika nach Frankreich zurück mit der Erkenntnis: Truthahn
und Trüffel passen nicht zueinander. Derjenige, dem Truthahn mit
Trüffeln schmeckt, dem ist nicht mehr zu helfen: er weiß
Thunfischomeletts nicht mehr zu schätzen als einen einfachen Braten.
Der Professor, Mitglied vieler literarischer und anderer Gesellschaften,
behauptet, daß „die unwiderlegbaren Beweise uns lehren, daß unsere
Weltkugel schon viele grundlegenden Veränderungen erlitten hat, von
denen jede das ,Ende der Welt’ bedeutete; und eine geheime innere
Stimme sagt uns, daß noch andere kommen müssen“, und er sagt voraus
„eine letzte sublunare Revolution“. Die ist gerade im Entstehen begriffen.
Das tote Weltall wird schrittweise aus den auseinandergenommenen
Teilen wie ein universeller Mechanismus, wie ein Rezeptsystem
rekonstruiert. Bleibt nur, es zum Leben zu erwecken, das Rezept zu
interpretieren, zu überführen. Die tote Welt wehrt sich jedoch: egal wer
versucht die Leiche zum Leben zu erwecken, stirbt selbst, hört auf zu
leben. Und hier beginnen plötzlich die uniformen, und damit allen
verständlichen Aufzeichnungen der Rezepte - der Ergebnisse der
Wissenschaften - als Illusionen zu erscheinen. Schon in den Grundlagen
funktioniert etwas nicht. Die Idee, daß wir die Leiche in einen lebenden
Organismus zurückverwandeln, stürzt zusammen. Wir können sie in alles
zurückverwandeln. In alles ohne Leben. Wir leben in einer sich
wandelnden Zeit.

III.

Wenn wir einen Wecker nach und nach auseinandernehmen, um den
Grund für sein Ticken festzustellen, so hört er auf zu ticken, mißt die
Zeit nicht mehr. Wir wissen nicht wieviel Uhr es ist. Die Zeit zu messen
verliert seinen Sinn. Die Zahnräder verlieren ihre Funktion. Es kann auch
passieren, daß wir einige der auseinandergenommenen Rädchen
benutzen und eine Dampfmaschine oder eine Ratsche bauen,
vorübergehend, bis zu dem Zeitpunkt, an dem wir feststellen warum der
Wecker tickt, oder bis es uns gelingt, ihn wieder zusammenzubauen.
Tickt der Wecker - so wissen wir nicht warum, wissen wir warum - dann
tickt der Wecker nicht.
Eine analogische Situation entsteht in der informierten Welt in einer
Situation, die durch das Herausreißen oder die Formung aller direkt
zugänglichen Teile der ungeformten Welt aus der Natur herbeigeführt
wurde. Diese Teile sind nun auf unseren Wunsch und stets gleich faßbar,
informiert. Sie sind das Wissen der informierten Gesellschaft. Sie sind
jedoch keineswegs global vorstellbar, man kann aus ihnen nichts so
zusammensetzen, daß wir wieder das Bild der lebendigen Welt erhalten.
Es kann passieren, daß wir einige bereits informierte Teile der Welt
benutzen und eine Dampfmaschine oder eine Ratsche, einen Computer
oder einen Fernseher oder einen anderen Mechanismus oder einen
Automaten herstellen. Entweder vorübergehend oder dauerhaft, weil wir
schon den wahren Grund unseres Vorgehens aus dem Auge verloren
haben; das Funktionieren der Mechanismen ist inzwischen zum wahren

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