Offenes Fernsehen - geschlossene Gesellschaft

I. Der Undenkbare! Der Undankbare!

Dieser kleine Judas! grummelte jetzt des Esseintes während er in der
glühenden Kohle stocherte. Wenn ich daran denke, daß ich seinen
Namen nie in der Zeitung gelesen habe!

i

Solchermaßen überlegte ein degenerierter und dekadenter Aristokrat, der
Freude an den äußersten Unnatürlichkeiten des Lebens fand, als schon
lange die drei Monate vergangen waren, in denen er einem jungen
Waisen Bordell und Alkohol bezahlt hatte, in der Hoffnung, so einen
Mörder zu schaffen. Geben sie nur acht wie er denkt:

Dieser Junge ist ein Nichtsnutz und hat das Alter erreicht, in dem das
Blut in Wallung gerät; er könnte hinter den Mädchen in seinem Viertel
her sein, Spaß haben und dabei ehrlich bleiben, kurz und gut seinen
bescheidenen Anteil an diesem einförmigen Glück haben, das den
Armen vorbehalten ist. Wenn ich ihn jedoch hierhin hole, mitten in den
Luxus, von dem er keine Ahnung hatte und der sich ihm
notwendigerweise ins Gedächtnis brennen wird, wenn ich ihm alle
vierzehn Tage eine solche glückliche Gelegenheit bieten werde, wird er
sich an diese Leistungen gewöhnen, für die er keine Mittel hat; sagen
wir, daß es drei Monate dauern wird, bis sie für ihn zur absoluten
Notwendigkeit werden - und wenn ich sie so dosiere, steht nicht einmal
zu befürchten, daß er sie einmal satt hat -, dann, nach Ablauf der drei
Monate, nehme ich ihm die kleine Rente weg, die ich dir für diese gute
Tat im voraus ausbezahle, und dann wird er stehlen, nur um hier sein
zu können; er wird alles begehen, nur um auf diesem Diwan
herumlungern zu können und unter dieser Gaslampeii.

Der vorangegangene Passus verführt gerade dazu, an ihm die Macht und
die Fähigkeit des Fernsehens zu illustrieren: Dymaken und Novaken, so
lautet nämlich die allgemeine Bezeichnung der Zuschauer des Senders
NOVA, welche von ihren Erhaltern und Funktionären stammt, von Hinz
und Kunz, von degenerierten Intellektuellen, die den Sinn der Welt und
den eigenen Lebensunterhalt nirgendwo anders als in den äußersten
Unnatürlichkeiten finden, nirgendwo anders als in Banalitäten,
Schrecken und Dummheiten der Welt; diese Dymaken spielen auf den
ersten Blick die Rolle der Opfer, der unselbständigen Waisen mit
offenem Mund, für die die Sterne des unkaschierten Fernsehhimmels
(Hammer und Sichel endgültig beseitigt) den Traum aller Träume ersetzt,
das Paradies, das man bis ins letzte Detail erleben kann, wenn man alle

Freizeit für das Verfolgen der stets gleichen und sich stets
wiederholenden Bilder opfert. Die paradiesische Welt funktioniert, wenn
das Programmschema eingehalten wird, es wird irdisch, wenn es
genügend Anomalien enthält. Das ist seine einzige Normalität. Die darf
nicht gestört werden, sonst löst sich der süße Traum unwiederbringlich
auf. Betrug, Korruption, Tod, Gewalt erschaffen unter anderem das
Fernsehen. Es unterstützt sie deshalb auf alle möglichen Weisen und hält
sie für begrüßenswert (nicht nur dadurch, daß sie sie zu vervollständigen
hilft), es ist auf ihrer Seite.
Geben Sie nur acht wie diese „postmodernen“ Postumi des realen, die
Wirklichkeit manipulierenden Sozialismus denken: die Dymaken oder
Novaken, vom kommerziellen Fernsehen nicht berührt, haben das Alter
erreicht, in dem das Blut in Wallung gerät und haben die Möglichkeit die
Welt kennenzulernen; sie könnten hinter den Mädchen in ihrem Viertel
her sein oder Ausflüge mit belegten Brötchen im Gepäck machen, sich
vergnügen und dabei ehrlich bleiben, kurz: seinen bescheidenen Anteil
an diesem einförmigen Glück haben, das den Armen vorbehalten ist.
Wenn wir ihnen allerdings den „Standard“ des Fernsehens zeigen, den
Luxus, von dem sie keine Ahnung hatten und der sich ihnen
notwendigerweise ins Gedächtnis einbrennt, wenn wir ihnen täglich
eine solche glückliche Gelegenheit geben, dann gewöhnen sie sich an
diese Leistungen, für die sie keine Mittel haben; dafür wird man einige
gut gemischte Serienfolgen für einige Zeit benötigen, damit diese für sie
unentbehrlich werden - und wenn wir sie gut dosieren und ein gutes
Programmschema erstellen, dann ist nicht zu befürchten, daß sie
irgendwann gesättigt sein könnten. Und siehe da, nach einigen Folgen
wird unser kleiner Nichtsnutz, dem bisher all diese billigen Wonnen und
die zauberhafte Macht leerer Worte unbekannt waren, wird unser kleiner
Nichtsnutz ihrem Zauber sicher verfallen, und dann wird er nur noch
schauen und schauen, schauen und kaufen, kaufen und kaufen, kaufen
und schauen, nur um Teilhaber dieser Wonnen zu sein, damit er selbst
die Macht der leeren Worte kosten kann; er wird alles tun, nur um auf
diesem Diwan herumlungern zu können, vor diesem Licht des
Fernsehers.
Diese Undankbaren, sagt sich dann Doktor Z{caron}eleznýii i, wenn sich
die Dymaken statt Hamlet, „eine der blutigsten Geschichten der
Geschichte“ (goldene Worte, Herr Doktor), sich selbst anschauen, weil
sie sich nicht einigen können, wer in den Supermarkt Tchibo einkaufen
geht - damit sie bei Tabunicht einschlafen. Diese Undankbaren, denkt
sich der Herr Doktor und ruft im Geiste dem Ehemann zu, der nur in
Pantoffeln mit Karacho die Treppen hinunterrennt: mach schon, schnell,
kauf eine größere Packung, du sparst dabei, für das gesparte Geld kauf
dir das Spray DeoDYM, dieses gibt dir das, was dir fehlt, die einzigartige
Individualität, du wirst dich von allen unterscheiden, denn alle kaufen es
doch, du Dymake, kauf eine größere Packung, dadurch sparst du, für das
gesparte Geld kauf dir Hundefutter, so sparst du Zeit, es ist so in der
Reklame, die noch nicht gelaufen ist, und wenn du dich beeilst, schaffst
du es noch bis zum Kampf zwischen Hamlet und Laertes, dann läuft
gerade die Werbung, von der ich gesprochen habe. Erst zuhause fällt

dem Dymaken ein, daß er keinen Hund hat. Macht nichts, das nächste
mal kauft er einen Hund. Einen Hund und noch einen Affen und einen
Bären, dadurch spart er. Er spart, aber woher soll er das Geld dafür
nehmen. Er wird sich ein Bingo kaufen müssen. Dann schaut er es sich in
der Live-Übertragung an.
Um Gottes Willen! Wenn uns so der Doktor hören würde! Jeder kann
doch seinen Fernseher freiwillig ausschalten, in der Zwischenzeit schon,
würde er uns tadeln. Ja, ausschalten, ähnlich wie freiwillig aus einem
fahrenden Schnellzug inmitten von Feldern hinauszuspringen. Sie
kommen dann von NOVA, um uns aufzuzeichnen. Überleben wir,
kommen wir noch in Tabu. Der Doktor wird zufrieden sein.
Also doch. Sind wir nicht zu weit gegangen? Erinnert das
vorangegangene Bild nicht allzusehr an das Bild des neuen Fernsehers
aus der Reklame? Wir platzen vor Neid, wenn wir die Farben seines
Bildschirms auf unserem alten, noch unvollkommenen Apparat sehen. Ja,
ja, es scheint so, daß das vorherige Bild nicht so ganz sitzt, es ist ähnlich
falsch wie die Serie Die Neulinge. Wir lassen und doch nicht etwa von
Bosheit und Neid leiten? Das von uns geschaffene Bild ähnelt zu sehr den
Bildern des Senders NOVA: es ist nicht darüber, was es zu sein
vortäuscht, es ist nicht vom Fernsehen. Es ist nicht unwahr, es ist aber
auch nicht wahr. Wenn wir gegen das Fernsehen mit seinen eigenen
Waffen, Bildern, vorgehen wollen, müssen wir zunächst wissen, wie
diese Bilder funktionieren, sonst riskieren wir, daß wir mit einem
Spielzeug- gegen ein Maschinengewehr marschieren, oder anders herum
mit einer Kanone gegen Spatzen.
Huysmans’ Bild von des Esseintes aus dem Anfang des Artikels merken
wir uns aber bitte, es wird uns noch, wie wir im weiteren sehen werden,
nützlich sein.

II. Exkurs - die Gewalt

Ja - das Fernsehen, Macht und Gewalt sind verknüpft. Ja. Das Fernsehen
korrumpiert sicher (vor allem die Zuschauer), zeigt sicher die Gewalt als
Muster, das Fernsehen prangert jedoch auch gelegentlich Gewalt und
Korruption an. Ja, sicher, das Fernsehen ist ein Zeitfresser, auf der
anderen Seite sparen wir mit Hilfe des Fernsehens gelegentlich Zeit. So
ist eben, wie der Doktor sagti v, alles so dosiert, daß jeder auf seine
Kosten kommt. Er dachte wohl auch an diejenigen, die den Fernseher
nicht einschalten. Noch besser ist des Doktors Argument, daß das Volk
(der Dymake) es so wünscht. Das Fernsehen ist also ein Vortrupp des
Volkes. An der Spitze des Trupps steht der aufopferungsbereite Doktor.
Tag für Tag zerbricht er sich den Kopf darüber, was das Volk sich wohl
wünscht, daß es nicht viel kostet. Man darf sich nicht wundern, daß ihm
davon der Schädel brummt. Jedem das geben was alle wollen. Oder im
Gegenteil?
Die erwachsenen Gegner des Fernsehens bringen oft die Kinder mit ins
Spiel. Sie sagen: in Kinderprogrammen ist die Frequenz der Gewalt
fünfmal höher als in Erwachsenenprogrammen (25 Gewaltszenen pro
Stunde bei Kinderprogrammen, fünf Aggressionsszenen bei