Zwei Strukturen der Macht

Individuelle Moral oder die stumme Welt

Gli uomini d’onore, die geehrten Männer oder Ehrenmänner, wurden erstmals
Ende der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts mafiosioder mafiusigenannt, und
ihre Gemeinschaft wurde von der äußeren Welt als Mafia bezeichnet. Damals
schrieb man maffianoch mit zwei „f“.
Die sizilianische Mafia, l’onorata societa, eine Gemeinschaft für gegenseitige Hilfe,
existierte ziemlich sicher vor dem 17. Jahrhundert (anscheinend schon um das Jahr
1000). Das Wort „Mafia“ stammt wahrscheinlich aus dem Arabischen, im
Italienischen bezeichnete es ursprünglich Arroganz, desweiteren Mut, Fähigkeit zu
verängstigen, beschützen, verhexen, verzaubern, Geister austreiben, und es war
auch eine Bezeichnung für Hexen.
Von außen betrachtet scheint die Mafia hierarchisch strukturiert zu sein. An der
Spitze steht ein Chef - capo dei capi, der Kopf der Köpfe, der Chef der Chefs. Die
Struktur ist von außen klar zu unterscheiden. Die Beziehungen der Unter- und der
Übergeordnetheit werden dadurch bestimmt, wer mehr zu wem spricht und wer
wem mehr zuhört, wer mit wem weniger spricht. Es wird nicht zwischen
„Wahrheit“, „Schönheit“ und „Gutem“ unterschieden. Es geht um ein und dieselbe
Angelegenheit: Rispetto- Ehre, Ernst, Respekt... Hier ist jedoch die Analogie der
Mafia mit der informierten Gesellschaft - wer mehr Informationen hat, offensichtlich
mehr zuhört, der ist näher am Gipfel der Macht - schon zuende.
Wer in einer Mafiagemeinschaft schweigt, genießt, oder kann, solange er schweigt,
Ernst und Ehre genießen (Wahrheit, Schönheit und Gutes). Derjenige, der redet,
wird nicht ernst genommen. Er informiert nicht, teilt nichts mit, stellt also keine
Informationen zur Verfügung, sondern redet zur Erheiterung derjenigen, die wissen
und schweigen (der Mafioso lacht nicht, sondern ist erheitert, dieser Zug ist von
außen nicht beobachtbar). Wer redet, gibt durch die Benutzung der Sprache eine
untergeordnete Beziehung preis. Wenn das, was ehrenvoll und geehrt ist (die
Wahrheit, Schönheit, das Gute) ausgesprochen wird, dann verliert es seinen Ernst
und seine Echtheit, seine Schönheit, Wahrheit und Gerechtigkeit für den Sprecher
und den Zuhörer - Mitglied der Mafia - vollkommen. Eine ausgesprochene Wahrheit
ist bereits unwahr, sie kann auch nicht schön sein. Der Rispetto- „das Wissen“, „die
Schönheit“, „die Moral“ - verliert sich, wenn er ans Licht der Sprache gelangt.
Aus der inneren Sicht erscheint die Mafia keineswegs organisiert, sie hat keine
Struktur (man muß hier an eine gewisse Analogie erinnern: die Staatssicherheit des
vorigen Regimes, das dem aktuellen vorausging, hatte das paranoide Bemühen, die
feste hierarchische Struktur der sogen. Gemeinschaft der Dissidenten zu enthüllen
oder zu konstruieren. Die hatte jedoch keine im Inneren strukturierte Organisation,
nach außen konnte und mußte sie jedoch als strukturiert angesehen werden, damit
sie begriffen und reprimiert werden konnte).
Im Innern erscheint die Mafia, wie ihre Mitglieder sagen „come l’aria che si respira,
siamo dentro di essa, ma non si pu_ afferare“
- wie die Luft, die wir atmen, wir
sind in ihrem Innern, aber man kann sie nicht greifen.
Die sizilianische Mafia (eine Bezeichnung der Welt außerhalb der Mafia) ist nicht in
der Lage, mit der sie umgebenden Welt zu kommunizieren. Mit ihr redet die Mafia
nicht, sie würde dadurch ihre Untergeordnetheit preis geben, sie hört nur zu und
versteht sie, eine Welt, die sich lauthals ernst nimmt, verliert für die Mafia ihren
Ernst. Die umgebende Welt bekommt im Gegenzug keine Antworten auf ihre
Fragen. Den Mittler in der Kommunikation zwischen der Mafia und dem Staat (der
sie umgebenden Welt) stellt das Verbrechen oder das organisierte Verbrechen dar,
das sich bei dieser Kommunikation etwas dazuverdient, die äußere Struktur der
Mafia kopiert und sie als neue innere Struktur übernimmt (und, wie wir im weiteren

sehen werden, die äußere Struktur der sie umgebenden Welt übernimmt); auch er
wird manchmal als Mafia bezeichnet (manchmal auch als neue Mafia) oder als
Freunde der Freunde.
Die Kommunikation zwischen der Mafia und dem Staat ist auf diese kriminelle
Weise beidseitig. An Orten, die von der Mafia beherrscht werden, an Orten der
Absenz des Staates, wo diese Kommunikation der Mafia mit der äußeren Welt nicht
nötig ist, existiert das wirkliche Verbrechen nicht.i
Die Angehörigen der Mafia wissen, daß sie, wenn sie sich wie Ehrenmänner
verhalten, belohnt und im gegenteiligen Fall bestraft werden. Es existieren jedoch
keine internen Kriterien, Normen oder Gesetze der Mafia, die vorschreiben, was das
verhalten eines Ehrenmannes ist. Der Angehörige der Mafia weiß so nie, ob er sich
richtig verhält oder nicht, ob er belohnt oder bestraft wird (eine Ausnahme bilden
die Fälle, die mit zu vielem Reden außerhalb der Mafia verbunden sind, es geht um
einen Ausdruck der Zugehörigkeit zu einer anderen Struktur, dadurch reiht sich der
Angehörige der Mafia aus seiner Gemeinschaft aus: „cu _ surdu, orbu e taci, campa
cent’anni ‘mpaci“
- wer taub, blind und stumm ist, wird hundert Jahre alt). Der
Mafioso wird gezwungen, sich nach bestem Gewissen zu verhalten (nicht zu
sprechen), ihm bleiben immer Zweifel. Das, was von außen betrachtet als Strafe
aussieht, entfernt lediglich Instabilitäten der ehrenwerten Gesellschaft(l’onorata
societa), es handelt sich also um keine Strafe, sondern erhält sie Mafia in
funktionierendem Zustand. Es hat eine kohärente Ordnung der allgemeinen
Überzeugungen im Bezug auf die Realität zum Ziel: im Bezug zur äußeren Welt. Die
Macht der Mafia koinzidiert häufig mit der Macht des Staates, sie können dieselben
Ziele haben.
Für die Mafia existieren Ethik und Wahrheit nicht in der Sprache, Wahrheit und das
Gute kann man nicht wörtlich ausdrücken.

Eine Welt für Schubladen

Die Mafia ist selbst eine offene Gesellschaft. Sie selbst bildet keine Struktur. Ihre
Strukturiertheit, Geschlossenheit und ihr krimineller Charakter beginnt mit dem
Kontakt zur strukturierten Außenwelt - dem Staat. Durch den Anschluß Siziliens zu
Italien am 21. Oktober des Jahres 1860.
Die Mafia bemühte sich damals noch, die Außenwelt zu resorbieren, indem sie die
ihr angeborene kosmopolitische Tendenz ausnutzte: das Begreifen der Welt als
globales Dorf. Die Welt ist in der Auffassung der Mafia la Little Italy, klein Italien. In
den sechziger Jahren unseres Jahrhunderts verliert sie ihren Kampf jedoch definitiv.
Es beginnt die Korruption der Mafia. Es beginnt der Anfang vom Ende: die Mafia
erscheint im Fernsehen. Die Welt wird so für die Mafia gestört, entleert, und man
kann sie nicht wiederherstellen.
Das Verständnis der Mafia von der Außenwelt (und umgekehrt) illustriert sehr gut
die Situation, in der sich der Baron Brambeus nach dem Fall in den Ätna befindet.i i
Für den Baron (und symmetrisch für die Bewohner des Kraters) ist jede Sache, die
benannt wird, schon nicht mehr diese Sache. Das gegenseitige Mißverständnis
inmitten des Kraters ist die Grundlage für eine gegenseitig günstige
Kommunikation: dank der Übersetzung der Titulatur durch das Italienische geht
Brambeus, ein Beamter der niedrigeren Klasse, in eine andere Sprache über als
höchster Staatsmann; in der konkaven Welt im Innern des Kraters des Ätna werden
dem Verhalten gegensätzliche Bedeutungen zugeschrieben usw. Aus diesen
Gründen entschließt sich der Baron, in jener Welt nur in Übersetzungen zu leben.
Ähnlich ist für die Mafia die folgende Vorstellung der Welt charakteristisch: sie setzt
sich aus entleerbaren Sachen-Schubladen zusammen. Wenn eine Sache-Schublade
geöffnet ist - z.B. wenn über einen korrespondierenden Teil der Welt gesprochen
wurde, wenn also das Schweigen verletzt wurde - dann gewinnt ihre Vorstellung an
Inhalt. Die Welt und gleichzeitig die Sache werden auf diese Weise verletzt. Ihr
Inhalt ist wird entwertet, da entleert. Hier ist die Quelle der Bestrafung der Person -
sie hat durch sprechen die Welt verletzt, und es ist möglich ihn durch eine

Veränderung der Sache zu entdecken und durch die Bestrafung die Welt wieder in
ihren ursprünglichen Zustand zurückzuführen: die Schublade zu schließen.
Die l’omert_der Mafia, die von außen unverständliche Schweigsamkeit, ist aus
innerer Sicht eine Art und Weise, die Dinge ohne Sprache zu begreifen, ein
analogisches Sehen der Dinge in der Wirklichkeit. Das, was die Außenwelt
Mafiasymbolik nennt (z.B. Gegenstände - Steine, Blumen usw. - im Mund eines
Toten oder Drohungen „Herr Richter, wünschen sie sich nur, daß ihren Kindern
nichts passiert“), ist für die Mafia eine gut zu verstehende Analogie. Von hier stammt
auch die feste Bindung der Mafia zur Wirklichkeit - zum Territorium, zum Boden.
Auch das Verständnis der Zeit ist bei der Mafia ganz außerordentlich. Die Mafia hat
keine Geschichte, die Vergangenheit existiert nicht, man kann sie auf nichts
beziehen, es gibt keine Methode, wie man die Geschichte auslegen könnte: quannu
cc’ _ lu mortu bisogna pinsari a lu vivu
- was tot ist ist tot, man muß nach vorne
denken.

Institutionelle Moral und Taube Welt

Die mediale, informierte Gesellschaft (wir haben vor allem die Fernsehgesellschaft
im Sinn) ist aus innerer Sicht hierarchisch strukturiert. An ihrer Spitze steht der
Chef: der Kopf aller Köpfe. Es handelt sich um eine intern gut zu unterscheidende
Struktur. Die Beziehungen der Unter- und der Übergeordnetheit sind Beziehungen
zwischen demjenigen, der weniger spricht und mehr zuhört und demjenigen, der
mehr spricht und weniger zuhört. Es wird nicht zwischen „Wahrheit“, „Schönheit“
und „Gutem“ unterschieden. Es geht um ein und dieselbe Angelegenheit: die
Audienz. Wer redet und sich darstellt, hat, solange er redet, den Ernst, die Ehr (die
Wahrheit und Schönheit) auf seiner Seite. Derjenige, der schweigt, in die Röhre
glotzt, wird nicht ernst genommen. Er ist hier und schweigt zur Erheiterung
derjeniger, die reden, er gibt durch sein Schweigen seine Beziehung der
Untergeordnetheit preis. Das, was nicht ausgesprochen, benannt wird, kann nicht
geehrt und gelesen werden, erst im Fernsehen ausgesprochen erhält es für den
Sprecher und den Zuschauer seine Ernsthaftigkeit, seine Echtheit, seine Schönheit
und Wahrheit. Das, was nicht ausgesprochen ist, ist noch nicht wahr. Der Respekt -
„das Wissen“ und „die Schönheit“ und „das Gute“ - wird nicht sichtbar, wenn er
nicht mit Hilfe des Publikums ans Licht gelangt, wenn er nicht durch die Sprache,
durch Zahlen, Grafiken oder Fernsehaufzeichnungen vermittelt wird.
Die medialen Showmen sind nicht fähig, mit der Außenwelt anders als nur in einer
Richtung zu kommunizieren. Die Medien selbst können mit der Außenwelt (die
medienintern ist) überhaupt nicht kommunizieren.
Die Angehörigen der Mediengesellschaft wissen, daß sie, wenn sie ausreichend
sprechen, wenn sie sich häufig darstellen, belohnt werden (lahmer Mund - nacktes
Unglück), ihr Leben ist das Bemühen um die größtmögliche Teilnahme auf dem
Bildschirm. Strafe und Belohnung erhalten die Mediengesellschaft in
funktionierendem Zustand. Sie zielen auf eine kohärente Ordnung der allgemeinen
Überzeugungen bezüglich der sprachlichen Realität hin (auf Zahlen, Grafiken,
Definitionen und Bildaufzeichnungen).
Die Ethik und die Wahrheit existieren in der Sprache nur als relative Urteile - nur im
Hinblick darauf, was auf dem Bildschirm gesagt wird. Sie werden zirkulär -
verweisen auf Verweise, im Hinblick darauf ist es vernünftig, sie zu normieren. In
einer medialen Welt hat es keinen Sinn von der Ethik zu sprechen, ethisch ist nur
das, was vom Gesetz etikettiert wurde, die Ethik wird auf eine Norm, auf ein Etikett
reduziert.
Von außen betrachtet hat die mediale Welt keine Struktur. Sie erschient als ein
offener Raum aller möglichen Hierarchien und Präferenzeni ii, so wie der sogen.
mediale Markt, alles was sich auf ihm befindet, ist im Hinblick auf die Bedeutung
vergleichbar, Grenzfälle stellen sich nicht als Schranken dar, im Gegenteil: sie
stehen sich nicht im Wege. Die äußere Sichtweise verschwindet, sobald der
Beobachter zum Teilnehmer wird - zum Empfänger von Informationen, zum
Zuschauer, oder wenn er - im schlimmsten Fall - auf dem Bildschirm erscheint. Die

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