Geschlossenes Fernsehen - offene Wirklichkeit

Der vor dem Fernsehen lümmelnde Zuschauer stellt sich selbst keine Fragen (außer,
daß vom Bildschirm her eine Frage käme: „Sitzen sie bequem?“ - „Wie? Ob ich
bequem sitze? Ja, ich sitze bequem.“; „Haben sie schon die neuesten Dingsbums
gekauft?“ - „Was? Ob ich die neuen Dingsbums gekauft habe? Die neuen Dingsbums
kaufe ich morgen, direkt nach dem Ende der 15. Folge der Serie Wolfsnebel!, oder
besser auf dem Weg von der Arbeit, damit ich es hinter mir habe.“) außer einer:
Warum schaue ich mir das an! Auf die Frage sucht er keine Antwort. Es ist keine
Zeit, es beginnt die nächste Sendung, vielleicht auf einem anderen Programm. Dort
spielt sich ungefähr dasselbe „Drama“ („Komödie“) ab.iObwohl der Zuschauer
nichts fragt, bekommt er ständig in Reserve Antworten auf die Fragen, die er sich
stellen könnte, wenn seine Aufmerksamkeit nachlassen würde, wenn er seine
Partizipation an den Quoten unterbrechen würde: Was passiert wohl da draußen
während ich das Fernsehen verfolge? Wie ist die Welt dort draußen? Was passiert
dort? Und vor allem: Wo bin ich selbst, wo ist mein Platz in jener Welt? („Vor dem
Bildschirm“ bietet sich als böswillige Antwort). Wenn wir den Fernseher
ausschalten, verändert sich unsere Sichtweise der Welt nicht. Statt dem Abgucken
der Antwort beginnen wir, früher nicht gestellte Fragen zu stellen: Wo bin ich selbst
in dieser Welt? Was geschieht hier draußen? Wo ist mein Platz in dieser Welt? Hier
oder dort? Die Antwort auf die Fragen ist hier, fertig zur Hand.
Wenn wir den Fernseher ausschalten, verändert sich nichts grundlegendes. Die
möglichen Antworten auf eventuelle Fragen werden von vornherein beantwortet.
Ihr Radius ist beschränkt.
Das Fernsehen erscheint auf den ersten Blick als belebtes Bild, ständig geschieht
etwas, die Bilder bewegen sich ständig, und man kann sie in keiner Weise mit der
selben Bedeutung zurückholen. In Wirklichkeit passiert nicht viel. Das Böse (die
Nachrichten und die Fernsehserien) und das Gute (die Werbung) wechseln
regelmäßig und übertrumpfen einander in der Verwendung der gegenseitigen
negativen und positiven Verweise auf dieselben ästhetischen Muster. Man sieht
ständig dasselbe: vom Bildschirm aus beobachtet uns jemand aufmerksam. Er läßt
uns nicht aus den Augen. Es sind nicht wir, die aus dem Fenster hinaus in die Welt
schauen, der Fernsehbildschirm schaut zu uns hinein.
Warum vertraut der Zuschauer dem Fernsehen? Warum fragt der Zuschauer nicht,
was er auf dem Bildschirm sieht? Die Antwort wäre die Antwort auf die Frage: Wer
bin ich denn? Wer schaut mich da aus dem Fernsehen an? Er sollte sich jedoch noch
fragen: Wer bin ich? Was sieht mich dort? Was ist das dort für eine Welt? Warum
beobachten sie mich? Was wollen sie von mir? Was wohl? Warum wohl?
Wenn wir den Fernseher ausschalten, verändert sich nichts grundlegendes. Wir
können uns frei entscheiden, ähnlich wie unsere Gegenüber im Fernsehen, und vor
allem: wir können über das Fernsehen sprechen. Auch mit ausgeschaltetem
Fernseher können wir wählen, was wir zum Mittagessen einkaufen, mit was wir
unser Hemd waschen, welchem Kaffee wir den Vorzug geben: statt vom Fernsehen
können wir uns von der Straßenreklame leiten lassen. Sie bietet uns eine ähnlich
breite Auswahl wie die Reklame im Fernsehen. Was hier und dort nicht inseriert
wird, kaufen wir im Laden sowieso nicht (wenn wir zwischen Coca-Cola und Pepsi-
Cola wählen, ist es als ob wir zwischen dem Teufel und seiner Großmutter wählen
würden - die eine Gesellschaft eignet die andere und umgekehrt, bei den anderen ist
das so ähnlich). Wir können endlich deutlich und vor allem lautstark zu erkennen
geben, daß wir das Fernsehen verachten. Jeder kommt, auch mit ausgeschaltetem
Fernseher auf seine Kosten. Je nach seinen Verdiensten - fürs Fernsehen natürlich.
Wenn wir den Fernseher ausschalten ändert sich die Zuschauerquote nicht. Die
Welt unterscheidet sich für uns von der Fernsehwelt nicht mehr allzusehr. Wenn
wir das Fernsehen ausschalten, verändert sich nichts grundlegendes. Noch immer
werden wir vom Fernsehen mit der den Apparaten eigenen Sorgfalt beobachtet.
Welcherart sind wir? Welche Schuhgröße haben wir? Wieviele Kinder? Sind wir

gesund? Husten wir nicht? Sind wir wohl sauber und haben eine gesunde Haut?
Haben wir wohl genug Geld für ein neues Auto? Die Fragen stellt das Fernsehen,
genau wie früher die Antworten. Wir können antworten, wir können unwahr
antworten, wir können verbohrt schweigen. Sie werden sowieso, ähnlich wie bei
einem Verhör, alles von uns erfahren. Wenn nicht von uns, dann von unserem
Nachbarn oder der Kassiererin im Supermarkt. Endlich kennen sie, ähnlich wie bei
einem Verhör, die Antworten schon im voraus.
Wenn wir den Fernseher ausschalten, verändert sich fast nichts auf der Welt. Wenn
wir den Fernseher ausknipsen, wird gerade die Fernsehwelt geboren.

Der Zuschauer und die referierende Welt,
die Welt und der referierende Zuschauer

Wenn wir den Fernseher ausschalten, verändert sich die Stellung unseres
Zuschauers in der Welt nicht. Der Empfänger von Informationen und von
Unterhaltung wird schrittweise aus seiner Welt hinausgedrängt - die Information
muß allen zugänglich sein, ersatzweise wird der Zuschauer jedoch in die Mitte der
Nachrichten gesetzt, in die Mitte der Fernsehwelt; die beginnt nun überall zu sein,
der Raum ist nicht begrenzt, alle sitzen auf demselben Platz, der Mensch wird zum
Zuschauer von Beruf, er weiß nichts über die Welt und sich selbst, er weiß nicht,
was er tun soll, aber er weiß alles, er hat alles erlebt und alles gesehen. Er weiß
nicht, was er machen soll, er macht das, wozu er vom Bildschirm aufgefordert wird.
Dadurch, daß das Fernsehen die Stellung des Zuschauers in der Welt bestimmt,
vertreibt es ihn nach und nach aus der Mitte der Welt, der Zuschauer wird jedoch
zu einem anderen, künstlichen Zentrum, er ist Zielscheibe der Aufmerksamkeit des
Fernsehapparats, der Bildschirm beobachtet den Zuschauer, formt ihn und
bestimmt jeden seiner Schritte nach den eigenen Intentionen. Der
Fernsehzuschauer gibt sein Spiel mit den Automaten auf, verliert seine Seele zu
ihren Gunsten, ergibt sich ihrem Willen; wenn er den Fernseher ausschaltet,
verändert sich nichts grundlegendes. Die vollkommen informierte Welt wird von
ursprünglich leblosen, nun beseelten Institutionen bevölkert, die durch die Medien
im von den Zuschauern geschaffenen Raum zum Leben erwachen.
Wenn wir den Fernseher ausschalten, betrachten wir die uns umgebende Welt in
der Funktion eines Fernsehbildes, nichts grundlegendes ändert sich. Die
Wirklichkeit ist nun voll zugänglich, ist für alle auf dieselbe Weise offen, nämlich:
wie man den belebten Institutionen und Automaten zu Willen sein kann.

Institutionen versus Individuum

Die Institutioni iist ein Benutzungsverhältnis zwischen Individueni i ioder
Institutionen, wenn ein Einzelner in diese Beziehung eintritt, hört er auf ein
Individuum (unteilbar) zu sein, verliert seine Individualität und Identität, seine
Existenz und Einzigartigkeit teilt er in einer Beziehung mit einem zweiten. Die
Institution (und auch der Einzelne in diesem Verhältnis) ist nicht fähig zu sehen, zu
leiden, sie kann nur durch die Sprache der Institution kommunizieren (z.B.
Formulare, Autonummern, technische Bilder usw.). Der einzelne, der in ein
institutionelles Verhältnis getreten ist, teilt sein Leben in die Kommunikation mit
der Institution und Gefühle ohne Emotionen (er verliert die Fähigkeit, die Dinge in
ihrer Gesamtheit zu sehen), also in Hysterieiv- sein Erlebnis ist Kitsch.v vi
Nicht jedes Benutzungsverhältnis (Besitzverhältnis) muß eine Institution sein. Die
Institutionen kennen den Menschen, das Individuum nicht, sie kennen lediglich das
identifizierbare Exemplar,vi isie kennen nur die Vergangenheit (aus ihrer Sicht
erscheint sie wie die Zukunft), das was fertig ist, was sich abgespielt hat. Die
Institution benötigt zum Funktionieren einen Benutzer (Besitzer),v ii isonst könnte sie
(ähnlich wie ein Auto) nicht verkehrstüchtig sein, sie würde zugrunde gehen. Im
Duo Benutzer-Benutztes (Besitzer-Besessenes) ist das Benutzte dominant, der
Benutzer schaut meistens nur zu und lamentiert (die Besitzer von Autos, die

Wähler). Das Fernsehen ist beispielsweise eine Institution: hier kommunizieren
miteinander bereits nur Institutionen: der Besitzer eines Fernsehers ist der Besitzer
der Fernsehausstrahlung.
Die Sprache teilt das Verhältnis in das auf, was man sehen kann und das, was
erkannt (beschreiben) wird; je mehr wir über etwas sprechen, desto mehr verlieren
wir es aus den Augen. Eine durch die Sprache geordnete Welt ist keine
Weltordnung, je übersichtlicher die Ordnung ist, desto mehr verliert sich die Welt.
Das Ziel der Ordnung ist es, sich in der Welt so auszukennen, daß sie erobert
werden kann, der Mensch hat die Welt in eine Welt der Institutionen und eine Welt
der Gefühle aufgeteilt, die Institutionen kennen nur die Vergangenheit, die
Benutzung (die Ausnutzung) einer Sache, sie kennen nur die

Anmerkungen

i/ Wenn man manchmal von der Politik als (schlechter) Komödie oder Drama spricht, geht es evident um
einen Fernsehvergleich. Die politische genauso wie Fernsehkomödie (-drama) enthüllen die Welt nicht,
sondern im Gegenteil: sie verhüllen, verstecken die Welt.
ii/ Institution, aus dem lateinischen INSTITUTIO - INSTITUERE - IN-STATUERE, von STARE -
festlegen, festsetzen, das Gegenteil zum natürlich entstandenen.
ii i/ Individuum, aus dem lateinischen IN-DIVIDIUS, d.h. unteilbar, Einzelner. Im übertragenen Sinne auch
ein Mensch zweifelhaften Wertes(„das ist ja ein schönes Individuum, so verwachsen, es hat nichts und
lungert nur ‘rum“ - wir kennen es nicht und kennen seine Besitzverhältnisse nicht).
iv/ Wenn ein Mensch z.B. mit dem Auto fährt, dann tritt er in eine institutionelle Beziehung der Benutzung
ein, er sieht nichts, hört nichts, reagiert nur auf Signale - die Verkehrsregeln, die Emotionen reduzieren sich
auf Hysterie, er kann zwar anhalten und umherblicken, aber seine institutionelle Beziehung wird dadurch
nicht gestört, er muß sich erneut ins Auto setzen und weiterfahren.
v/ Vergl. Petr Rezek, Filosofie a politika k_c{caron}e [Philosophie und Politik des Kitsches],
OIKOYMENII, 1991. Alle von Rezek beschriebenen Beispiele hängen gerade mit Institutionen zusammen.
vi/ Kunderas Beispiel für Kitsch als zweite Träne ist selbst ein schönes Beispiel für Kitsch.
vii/ Es ist etwas lächerlich, wenn manche Politiker allem ihren Stempel aufdrücken wollen. Sie drücken den
Dingen nur ihre institutionelle Gestalt auf: die Gestalt des schamlosen Schwaflers.
vii i/ Manchmal benimmt sich eine solche Institution menschlicher als der Mensch, der mit ihr in ein
institutionelles Verhältnis treten möchte, z.B. die Institution des „Schlosses“ und des Bodenvermessers in
Kafkas Schloß(ähnlich im Prozeß).

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