einmal lesen; alle sind auf das Zeichen des Dirigenten angewiesen, der bestimmt,
was wer und auf welche Weise im gegebenen Moment spielen soll, und der das
Recht auf die Änderung der Zusammensetzung und der räumlichen Aufteilung des
Orchesters im Interesse des bestmöglichen Klanges der Komposition hat. Den
Gesamtklang kann allerdings nur er beurteilen. Die Kenntnis der Partitur begründet
objektiv seine führende Aufgabe; ohne sie wäre die Tätigkeit eines Orchesters
undenkbar.“vi
Diese Gegenrede ist eine Gegenrede eben nur auf der Ebene von Symbolen. Wenn
wir sie als Zeichen lesen, ist sie nicht weiter teilbar (da ein Zeichen keine Teile hat),
es kann also in keiner Weise zu einem Widerspruch kommen, es ist möglich, gerade
nur das zu „lesen“, was das Zeichen aussagt, die Wirklichkeit zu verstehen, sie zu
erkennen.
Jetzt ist Fidelius in der Lage, aus einem Text des Rudé Právooder aus einer Rede
eines Regimefunktionärs die Wirklichkeit „zu konstruieren“. Man kann die Realität
in ihrer Gesamtheit lesen. Wir wissen schon wo, wann und wie es zu einer
Manipulation der Wirklichkeit kommt, und können eine Nachricht darüber auf
verschiedene Weisen abgeben. Die Sprache beginnt erst jetzt, für den
aufmerksamen Leser, die Wirklichkeit zu beschreiben, entdeckt das, was die
Symbole verstecken. Rorty würde sich wundern.
Verdorbenheit ihrer Wähler oder derjenigen, die für die Politiker stimmen. Die
Verdorbenheit der Politiker verursacht auch die Korrumpierbarkeit derjenigen, die
vertreten, ob nun direkt oder indirekt. Der Weg von der Schlechtigkeit der einen
zur Schlechtigkeit der anderen ist nicht direkt. Wer an was Schuld trägt ist schwer
zu entscheiden. Auf welche Weise findet diese Korruption statt? Erstaunlicherweise
kommt es nicht deswegen zur Korruption, weil jemand den Politikern glauben
würde (oder weil ein Politiker seinen Wählern glauben würde), sie hat ihre Wurzeln
nicht in dem Mißtrauen gegenüber den Politikern bzw. den Wählern, sondern eher
deswegen, weil die Worte der Politiker nicht für bare Münze genommen werden.
Die zahlen es ihren Wählern genau so zurück: sie nehmen sie nicht ernst. Die
Tatsache, daß laufend damit gerechnet wird, daß ein Politiker und seine Partei ihr
Wort nicht halten, daß sie laufend uns bewußt nicht die Wahrheit sagen und diese
verheimlichen (was anderes ist eine Lüge!), ist Folge und Grund dessen, daß
allgemein gelogen wird. Institutionen finden in der Korruption ihr Metier, die
Verdorbenheit findet in der Institution ihr Alibi: ob Bösewicht oder Held, wir sind
alle eine Familie. Die festen Fundamente dieser allgemeinen Korruption, die aus
dem Gebrauch der Sprache hervorgehen, wurden in der nahen Vergangenheit
gegossen: „Die Wirksamkeit unserer offiziellen Propaganda wird weniger dadurch
hervorgerufen, daß ihr einige Menschen glauben, sondern eher dadurch, daß sie
viele, fast zu viele Menschen unterschätzen. [...] Auf der einen Seite ist es eine nicht
zu leugnende Tatsache, daß die totalitäre Propaganda nicht so ungeheuerlich und
schamlos ,lügen’ könnte, wenn sie nicht ein ,natürliches’ Fundament darin fände,
daß eben allgemein gelogen wird, daß wir selbst eine ansteckende Atmosphäre des
allgemeinen ,Lügens’ mitschaffen,“ schreibt Fideliusv i iund
fährt fort: „Die Institution
findet in der Korruption ihr ,natürliches’ Metier, die Korruption findet in der
Institution ihr ,natürliches’ Alibi. [...] aus der Sicht der Wirksamkeit der
offiziellen
Propaganda kommt es wirklich nicht darauf an, ob jemand sie ernst nimmt, weil er
ihr glaubt, oder ob jemand sie nicht ernst nimmt, weil er ihr nicht glaubt. Es ist aus
dem Grund nicht wichtig, weil in beiden Fällen ein solcher
Mensch mit ihr, mehr
oder weniger bewußt, das Grundlegendste teilt, nämlich die Überzeugung, daß
Worte eine billige Ware sind, mit denen man nicht respektvoller umgehen muß als
mit jedem anderen, serienmäßig hergestellten Teil, das zum sofortigen Gebrauch
bestimmt ist, wie z.B. Plastikbechern für Limonade: benutzen, zerdrücken,
wegwerfen. [...] Ein Mensch, der im Zustand der Lüge lebt, tut etwas viel
Wahrheit zu sprechen aufhört, überhaupt einen Sinn zu haben.“vi iiDurch die
allgemeine Korruption beginnt die sprachliche Manipulation der Wirklichkeit.
Nun kann man die Wirklichkeit „verzaubern“. Die Ideologie als Para-Märchen
beginnt zu funktionieren. Sie ist ein fester Punkt, auf den man sich beziehen kann.
Je mehr wir uns auf ihn beziehen, desto mehr Boden verlieren wir unter den Füßen.
Unsere Wahrheit und Lüge verlieren ihren Sinn und damit auch ihre Bedeutung, die
Verantwortung lastet schon nicht mehr auf unseren Schultern. Wir können uns jetzt
auf etwas beziehen, um nicht zuzustimmen ist es jetzt zu spät, und wer die
Propaganda nicht ernst nahm, ist „nicht in Ordnung“ oder seine Worte sind jetzt nur
noch leere Rhetorik.
Wenn wir heute zu den Reden der Staatsmänner zurückkehren, sind für uns schon
jetzt die langen Einführungen und Schlußworte nicht mehr verständlich, die an
Zaubersprüche erinnern. Es geht um die Behexung seines Nächsten, um
Zaubersprüche, die den Zuhörer wie den Sprecher zu Eintritt in den Teufelskreis
beschwören, um die Verpflichtung eine institutionelle Lüge anzunehmen, um die
Unmöglichkeit, die Wahrheit zu sagen und sich auf sie zu beziehen. Es kommt aber
überhaupt nicht darauf an, ob wir an den Zauberspruch glauben, ob wir nur so tun,
ihn nur fürs Auge annehmen, gerade nur soweit, daß wir keinen Ärger bekommen,
oder ob wir ihn als totales Geschwafel begreifen, ihn überhaupt nicht ernst
nehmen. Die Grundregel der verzauberten Welt der institutionellen Lüge lautet nun:
die Welt zerfällt in zwei Teile, von denen nur der eine, der verhexte, der wirkliche
ist. „Mit nichts gibt sich die Propaganda so viel Mühe wie damit, uns zu suggerieren,
daß wir immer nur zwischen zwei Möglichkeiten wählen können. Es ist fast
schockierend, wie leicht sich das menschliche Denken von diesem
kompromißlosen ,entweder - oder’ terrorisieren läßt.“i xDie aufgetischte Totalität ist
ein sprachlicher Ersatz für die Realität. Es beginnt ein Kampf zwischen der Realität
und der Illusion, eine Aufteilung in Äquivalenzklassen, welche immer feiner und
feiner wird (oder gröber und gröber, je nach dem, von welcher Seite betrachten),
immer weniger und weniger kann man unterscheiden. „Die Welt der ,einheitlichen’
Wahrheit wird notwendigerweise zur einzigen und wahren ,Realität’; deshalb wird
es nötig sein, noch ein Reich der ,Illusionen’ zu errichten, wohin man alles
abschieben kann, was in unsere ,reale’ Welt aus diesem oder jenem Grunde nicht
paßt.“x
umhin, eine gewisse Divergenz zwischen dem zu erkennen, was die Worte
sprechen, und dem, wovon wir glauben, daß es die Worte beschreiben sollten. Wir
erforschen nicht, welche Worte der Welt entsprechen, sondern welchen Worten
die Wirklichkeit entspricht, welche Wirklichkeit den Worten entspricht. Aus den
Worten rekonstruieren wir die Wirklichkeit. Ein Geschehnis, das nicht festgehalten
wurde, ist nicht geschehen. Wer nicht spricht, wer keinen Nachrichten von sich
abgibt - der existiert nicht. Solange eine Beschreibung der Wirklichkeit nicht
abgesegnet und katalogisiert worden ist - solange existiert die Wirklichkeit nicht.
Worte werden durch Worte bewertet, anhand von Nachrichten, Projekten und
Vorschlägen. Man kann nicht darüber sprechen, was zu sehen ist, wenn nicht im
voraus die Wirklichkeit auf eine im voraus abgesprochene Sprache überführt wird.
Niemand verhält sich danach, was er sieht, sondern danach, was er hört.
Die Ideologie umfaßt unter anderem eine systematisch organisierte Präsentation der
Realität. Ihre Präsentation mit Hilfe der Sprache besteht vor allem in der Auswahl.
Wir sind einerseits gezwungen aus der beschriebenen Wirklichkeit auszusuchen -
man kann sie nie in erschöpfender Weise beschreiben - andererseits haben wir die
Möglichkeit, uns die Beschreibung eines Geschehens, oftmals völlig willkürlich,
auszusuchen. Die Wirklichkeit hat im Gegensatz zur Sprache keine Struktur, sie ist
nicht konstruiert und spricht, bis auf Ausnahmen, in keiner Sprache. Sie wird durch
(sprachliche) Strukturen, Konstruktionen und die Sprache selbst nur dargestellt,
Die Wirklichkeit hat keine Bedeutungen (bis auf Ausnahmen). Bedeutungen sind
Eigenschaften der Sprache. Ein Teil der Wirklichkeit ist allerdings oder kann auch
die Sprache sein.
Derjenige, der die Selektion durchführt, schuldet uns immer eine Erklärung, wie er
die betreffende Auswahl (die Auswahl aus Geschehnissen wie auch die Auswahl der
sprachlichen Beschreibung) trifft: eine Tageszeitung durch ihre Richtung, die durch
die Kommentare und Leitartikel und oft auch durch die Person des Chefredakteurs
oder des Besitzers bestimmt wird, ein Politiker muß durch seine Einstellung bekannt
sein. Wenn die einen oder die anderen ihre Grundrichtung oder ihre Einstellung zu
Worten verschweigen oder vortäuschen, wenn sie nicht offensichtlich sind, dann
liegt eine Manipulation der sprachlichen Wirklichkeit nahe.
Die Angst vor der Wirklichkeit führte die Exponenten „totalitärer Demokratien“ zur
Bemühung, die beschriebene Wirklichkeit so zu manipulieren (schien die Sonne
nicht, dann mußte dem Wind befohlen, gegebenenfalls jemand inhaftiert werden),
daß die Sprache von der Wirklichkeit unabhängig war, daß sie nicht der Realität
unterlag. Die Sprache als Abbild der Realität setzt ein Muster voraus. Wenn das
Muster günstig manipuliert, die Wirklichkeit in die „gute“ und die „schlechte“
aufgeteilt wird, dann muß man sich nicht einmal selbst belügen. Die Lüge bekommt
eine institutionelle Gestalt. Von der Wahrheit zu sprechen hört jedoch auf einen
Sinn zu haben. Die Sprache der „totalitären Einrichtung“, Fidelius nennt sie eine
Sprache der „gegenwärtigen offiziellen Propaganda“, wird so (lediglich mittelbar) zu
einem Instrument der Repression. Es wird eine institutionelle Moral geschaffen:
„Wer nicht für uns ist - ist gegen uns.“
Die Sprache der „gegenwärtigen offiziellen Propaganda“, also der damaligen
„totalitären Einrichtung“ beruft sich auf eine manipulierte Wirklichkeit.
Die heutige, gegenwärtige Ideologie und ihre Sprache, die Sprache der sogenannten
„totalen Verwaltung“ (total administration - so wird die Sprache der Staatsbeamten
und der Exekutive genannt), haben es nicht nötig, die Wirklichkeit zu manipulieren;
sie haben keine Angst vor ihr. Das Muster, die einzige Realität ist alleine die Sprache.
Die Abmachung klingt nun so: Worte, Worte, Worte. Jegwelche Fiktion der Welt,
außer der kriminellen, ist unter der Voraussetzung erlaubt, daß sie ihr Teilnehmer in
den Terminen der „totalen Verwaltung“ beschreibt, unter der Voraussetzung, daß er
die Vergleichbarkeit seiner Welt mit der vorangegangenen anerkennt, daß er mit ihr
verknüpft ist, die Bedingung der Kommunikationsfähigkeit erfüllt. Die Wirklichkeit
können wir willkürlich durch die fiktive Welt angleichen. Diese muß die Bedingung
der Übersetzbarkeit erfüllen, muß die Eigenschaft der Kodierbarkeit, der
Umlauffähigkeit einer Information besitzen (ein schönes Beispiel sind Kunderas
Erzählungen und Romanexi).
Die reduzierte Wirklichkeit beginnt so zu sprechen.
Es wird zu einem reinen „Wort“, oder zu einem „Eintrag“, es wird zu einem Symbol,
zu einer gewissen Hürde, zu einem Hinweis: hier stand ursprünglich ein Zeichen,
das man direkt lesen konnte. Symbole können willkürlich durch andere Worte oder
Bezeichnungen ersetzt werden. Die Struktur der Zusammensetzung dieser
Bezeichnungen (in Sätze) bleibt jedoch. Solche Strukturen charakterisieren jedoch
selten nur ein Objekt, sie sind nie eindeutig. Die Wirklichkeit beginnt gleichzeitig
für uns zu einem Rätsel zu werden. Die Sammlung von Essays von Vladimír Macura
Das glückliche Zeitalter versucht eine solche
„Entmythologisierung“. „...das Buch
versucht die Mechanismen der konkreten Kultur zu ergründen, die Gesetze ihrer
Emblematik aufzudecken, ihre Mythologie zu entmythologisieren,“ schreibt Macura
in der Einleitung. Das ist ihm gelungen! Eine konkrete Kultur kann manche
Mechanismen exemplifizieren, sie wäre jedoch keine Kultur, könnte man sie mit
noch so komplizierter Mechanismen ergründen. Das versucht bei uns nicht einmal
die Institution mit der paradoxen Bezeichnung „Ministerium der Kultur“! Die Kultur